piwik no script img

Kinder und die Gewalt im Fernsehen

■ In vielen Familien "betreut" die Flimmerkiste den Nachwuchs: Das ist staatlich sanktionierte Verwahrlosung

Verwahrlosung

Etwa ein Drittel aller Grundschüler hockt wöchentlich mindestens 30 Stunden vor der Glotze und läßt sich pausenlos mit Action, Horror und Reality-TV vollknallen. Dieser hemmungslose Fernsehkonsum ist nach Ansicht vieler Wissenschaftler mitverantwortlich für eine zunehmende Brutalisierung unter Kindern und Jugendlichen. Zumindest bei den 15 bis 20 Prozent, die nicht angelernt werden, mit dem Medium Fernsehen umzugehen, so eine Schätzung des Bielefelder Jugendforschers Professor Klaus Hurrelmann.

Erschrecken über diesen Trend zeigen alle sogenannten Verantwortlichen. Doch Ideen, wie man ihm entgegenwirken kann, werden nur vorsichtig geäußert. So wie zum Beispiel von Horst Eylmann (CDU), der in einem Spiegel-Interview immer noch auf eine freiwillige Selbstkontrolle beim Fernsehen hofft. Davon ist man bei RTL, einem der Marktführer in Sachen Horror und Reality-TV offenbar noch weit entfernt. Dann könne man ja nicht mal zeigen, wie jemand vom Fahrrad fällt und sich dabei einen blutigen Kopf holt, heißt es dort.

Das Argument der Sender, schließlich brauche ja niemand den Apparat einzuschalten, ist bloß scheinbar bestechend. Dabei fallen zwei Tatsachen unter den Tisch. Auch wer seinen Sprößlingen nur harmlose Bildschirm-Kost erlaubt, gibt die Kontrolle ab. Denn in die „schrecklich nette Familie“ schiebt sich die RTL-Eigenwerbung für „Notruf“ mit reality-schrecklichen Bildern.

Doch die meisten TV-Kids haben sowieso freie Bahn. Entweder haben sie Eltern, die beide arbeiten müssen, um sich ein Leben mit Kind(ern) überhaupt leisten zu können oder sie gehören zu den zwei Millionen Kindern, die mit nur einem Elternteil, meistens der Mutter, zusammenleben. Und die muß arbeiten. Wohin also mit dem Nachwuchs? Die Großeltern? Kaum, die leben entweder in einer anderen Stadt oder genießen ihren Lebensabend auf Mallorca. Kindertagesplätze? Fehlanzeige. Allein in Hamburg fehlen an die 19000 Ganztagsplätze.

Der vom Bund geplante Anspruch auf einen Kita-Platz wurde im Zuge der großen Sparaktion gerade mal wieder verschoben. Und er sollte sowie nur für die drei- bis sechsjährigen gelten, ein Anspruch für Grundschüler war nie vorgesehen. Damit entzieht sich der Staat, nach Ansicht von Hurrelmann, seiner Sozialpflicht. „Kinder sind in Deutschland immer noch eine reine Privatsache“, meint auch Karla Hundt, berufstätige und alleinerziehende Mutter von drei Kindern. „Und die in Bonn gehen weiterhin nur von dem heilen Familienbild aus: Papa arbeitet und Mutter hütet die Kleinen.“

Seit Jahren steigende Scheidungszahlen sprechen dagegen. In

1manchen Hamburger Grundschulklassen sind die Kinder aus sogenannten „Rumpffamilien“, also mit nur einem Elternteil, bereits eindeutig in der Mehrheit. Das aber ignoriert der Staat weiterhin geflis-

1sentlich. Und so spielen sich die dramatischten Reality-Shows Tag für Tag bei den Alleinerziehenden ab, die versuchen, ihren Nachwuchs telefonisch vom Büro aus zu beaufsichtigen. Angesichts fehlender Kita-Plätze, mangelnder Freizeitangebote, wenig Mittagsbetreuung und Nachmittagsangebote in den Schulen, geschweige denn eine Arbeitswelt, die diese Lebensbedingungen berücksichtigt, bleibt oft nur die Flimmerkiste als Kindersitter. „Da weiß ich jedenfalls, wo Johannes ist“, gesteht eine Mutter.

„Wenn ich meine Kinder so mangelhaft versorgen würde, wie der Staat die Familien mit Kindern, würde der gleiche Staat mir wahrscheinlich eine grobe Vernachlässigung meiner Aufsichtspflicht vorwerfen“, so Karla Hundt.

Dies sieht Hurrelmann ganz ähnlich und fordert deshalb von Bund, Ländern und Gemeinden eine konzertierte Aktion. Gesellschaftliche Gewaltursachen, und dazu gehört bei einem Viertel der Kinder auch das Fersehprogramm, müßten als Gemeinschaftsaufgabe angepackt werden — und zwar schnell.

Als einen erfreulichen ersten Schritt kann man daher den jetzt gefaßten Beschuß der ARD verbuchen. Auf einer Tagung in Baden- Baden beschäftigten sich die Programmchefs in dieser Woche ausführlich mit dem Thema „Gewalt im Fernsehen“. Herausgekommen sind dabei die Anti-Gewalt-Grundsätze. Damit will man sich noch deutlicher vom Angebot der kommerziellen Sender unterscheiden. Wörtlich: „Jeglicher Appell an voyeuristische Gelüste und primitive Sensationsgier ist unstatthaft.“ tom

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen