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Spaziergang durch die Hölle

■ Ein deutscher Feldwebel knipste Bilder im Warschauer Getto / Bremer Ausstellung

Menschen am Boden, ausgezehrt und krank, Alte und Kinder, Frauen wie Männer. Das sind Fotos, die der deutsche Wehrmacht- Feldwebel Heinrich Jöst am 19. September 1941 im Warschauer Getto aufnahm. „Ich wollte wissen, was hinter den Gettomauern vorgeht“, begründete der soldatische Fotograf Jöst seinen Gang durch das Getto. Erst 40 Jahre später übergab er dem Journalisten Günther Schwarberg die Bilder. Bis dahin hatte er sie niemandem gezeigt. In einer kleinen Auswahl sind rund 25 dieser Fotografien bis zum 21. Mai in Bremen zu sehen.

Heute hinterlassen diese Bilder zwiespältige Gefühle: Weil die Aufnahmen aus der Kamera eines deutschen Feldwebels stammen. Als gäbe es keine anderen Quellen, um das jüdische Leben im Getto zu dokumentieren. Als gehörten die Grausamkeiten der deutschen Armee nicht dazu. Als sei die Mahnung an das Gedenken zu trennen von denen, die mahnen — und sei es durch ihre Fotos.

Die Bilder zeigen, was ein Soldat bei seinem ersten und einzigen Gang durch das Warschauer Getto sehen konnte. „Es sind Bilder voll Mitgefühl“, sagte Günther Schwarberg, als er in der Villa Ichon aus seinem Buch „Das Getto“ las. — Auch wer Schwarbergs Einschätzung nicht teilt, kann darin einen Anhaltspunkt zur Betrachtung finden, einen Reibepunkt, der veranlaßt nachzufragen: Warum von Mitgefühl sprechen, wenn die Bilder eines Soldaten ausgestellt werden? — Und: Warum nicht? Für die Fotografierten machte es keinen Unterschied. Vor ihnen stand ein deutscher Soldat. Vor dem wie vor jedem Deutschen mußte der greise Strenggläubige sich erniedrigen, indem er den Hut zog — so befahl es eine Anweisung.

Auch die Passantin konnte nur machtlos die Tasche heben, als sie den Feldwebel sah, der den Sucher auf eine Todkranke am Boden richtete. Sie hält die Tasche wie ein Schild, als wollte sie sich und die Kranke vor der Kamera schützen und konnte es doch nicht — vor ihr stand ein deutscher Soldat. Der Frau, die betteln mußte, um zu überleben, blieb zur Gegenwehr nur der abweisende Blick.

Im September 1940 wurde das Getto per Verordnung eingerichtet. Bis Juni 1941 war eine 14 Kilometer lange Mauer um das Getto errichtet worden, fast eine halbe Million Menschen lebten darin. Bewachte Tore verhinderten die Flucht, die jüdische Bevölkerung wurde innen gefangen gehalten, Lebensmittel waren knapp. „Ein geschlossenes Getto bedeutet den Tod durch Verhungern“, notierte Chaim Kaplan schon im Oktober 1940 in sein Getto-Tagebuch.

Der deutsche Wehrmacht-Soldat Jöst ahnte davon nichts, erzählte er Jahre später und berichtet, daß er auf seinem Gang durch das Getto Bekannte traf, die aus Köln nach Warschau deportiert worden waren. Die übrigens mochte er nicht fotografieren. „Als ich gehen wollte, fragten mich die Kölner: 'Was soll denn nun aus uns werden?' Ich war damals so naiv, daß ich ihnen antwortete: 'Wieso, was soll denn aus Euch werden? Der Krieg ist bald vorbei, dann ist diese Sache hier zu Ende, und ihr kommt wieder nach Hause.' Ich hab das damals wirklich geglaubt. Was anderes konnte ich mir nicht vorstellen“, erinnerte er sich.

Über die weiteren Entwicklungen geben die Eintags-Fotos keinen Aufschluß: Am 22. Juli 1942 begannen die Deportationen aus dem Warschauer Getto. Über 300.000 Jüdinnen und Juden wurden innerhalb von drei Monaten im Vernichtungslager Treblinka ermordet.

Am 19. April 1943 begann der verzweifelte bewaffnete Aufstand der im Getto verbliebenen jüdischen Bevölkerung gegen die Deutschen. Bis zum 16. Mai konnte der Widerstand sich halten. Dann hatten die deutschen Einheiten das Getto völlig zerstört, seine BewohnerInnen umgebracht oder in Konzentrationslager verschleppt. Nur wenigen gelang die Flucht und der Anschluß an Partisanengruppen.

Mit den Fotos von ungezählten Leichenwagen dokumentierte Jöst, ohne es zu wissen, ein Vehikel des Widerstandes: Über die Mauer des jüdischen Friedhofs gelangten Waffen und Lebensmittel ins Getto. In Leichenwagen mit doppelten Wänden war ihr Weitertransport organisiert. Eva Rhode

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