: „Viel gereist – nichts gelernt?“
Facettenreiche Diskussion zum Verhältnis von Reiseerfahrung und Fremdenhaß ■ Von Günter Ermlich
Wir Deutschen, Abonnements- Weltmeister im Reisen, aber Kreisklasse im Verstehen und Akzeptieren anderer Völker und Kulturen? Gibt es einen Zusammenhang zwischen der hohen Auslandsreiseintensität der Deutschen und der Fremdenfeindlichkeit bei uns? Ist der Tourismus aufgrund von strukturellen Bedingungen überhaupt in der Lage, Kommunikation zwischen Reisenden und „Bereisten“ herzustellen? Genug Gesprächsstoff auf einem Kirchenforum unlängst in Berlin, von den evangelischen und katholischen Arbeitskreisen für „Freizeit und Erholung“ veranstaltet.
Theodor Geus von der FAZ verneinte, daß der aktuelle Ausländerhaß von Mölln und Rostock etwas mit der „touristischen Einäugigkeit“ zu tun habe. Und Professor Albrecht Steinecke vom Europäischen Tourismus Institut in Trier stellte fest, daß es ein „akutes Forschungs- und Wissensdefizit“ in dieser Frage gebe.
Waldefried Zucker-Stenger, Marktforscher beim Branchenriesen NUR, verwies darauf, daß die Reisebranche und der Deutsche Reisebüro-Verband „schnell und dezidiert zu den Übergriffen auf Ausländer“ Stellung bezogen habe. Kunststück, geht es der Reiseindustrie doch ans Eingemachte: um die Geschäfte im eigenen Land genauso, wie um die Geschäfte mit Vertragspartnern im Ausland.
Zucker-Stenger schwebt in den höheren Sphären des Individuums. Er glaubt, den Tourismus nicht durch soziologische und kulturphilosophische Betrachtungen erklären zu können. Der Tourismus sei „eine individuelle Entscheidung des Individuums“ und somit nur psychologisch erklärbar. Die Leute kämen von der Streßsituation aus Alltag und Beruf rein in die nächste Streßsituation, den zwischenmenschlichen Kontakt im Urlaub. Man überfordere den Urlauber beim „qualifizierten Kontakt mit den Einheimischen“, wo er doch „mit seiner eigenen Psyche genug zu tun“ habe.
Theodor Geus, Grandseigneur des Reisefeuilletons der FAZ, hatsich immer mehr zur Speerspitze der Tourismuskritik, die ansonsten darniederliegt, gemausert („Man muß sich verhalten wie ein wild gewordener Gewerkschaftssekretär: 60% fordern, damit 4% letztendlich herauskommen!“) und damit einige Fachleute zunehmend irritiert („Die radikalen Kritiker sitzen neuerdings in der FAZ!“). Geus sieht die „therapeutische Funktion des Urlaubs“ à la NUR- Zucker-Stenger heruntergekommen zur „rein physischen Therapie“. Denn die typischen Anreize einer Urlaubsreise sind mit etwa 77% immer noch „Tapetenwechsel“ und „Abspannen, ausschalten“ (Reiseanalyse 92 des Starnberger Studienkreises für Tourismus). Geus leugnete die völkerverständigende Funktion des derzeitigen Tourismus. „Wir haben ein erstaunliches Paradoxon: Der Tourismus der großen Zahl spielt sich in einem menschenfreien Raum ab. Er ist ein egoistisches, egozentrisches Erlebnis...“
Geus zweifelte auch, daß der Auslandsurlauber seine in und mit der Fremde gemachten Erfahrungen am heimischen Herd produktiv umsetzen würde: „Natürlich weiß heute jeder, daß Palatschinken nichts mit Schinken zu tun hat und die Frühlingsrolle keine Turnübung ist.“ Es nütze nichts, wenn aus einer solchen Erkenntnis keine praktische Solidarität würde, wenn man nur sage, „ein ,Neger‘ ist nett, und in Klammern dazudenkt, solange er mich nicht stört“. Er brandmarkte die „gemeinsame Verschwörung zwischen Touristen, Fremdenverkehrsindustrie und Empfängerländern, die Fremde nicht wahrzunehmen, da dies die Geschäftsgrundlage – den störungsfreien Urlaubsgenuß – belasten würde.
In dieselbe kulturkritische Kerbe hieb Professor Huber: Unter den Zielvorstellungen interkulturellen Lernens sei die „kulinarisch-zynische Interkulturalität“ die meistverbreitete Haltung im Bereich des Reisens. Fremde Kulturen seien wunderschön, vorzugsweise, um auf Zeit die fremde Küche zu benutzen. Nur die Kellner und die Zimmermädchen nehme man wahr, und in Bangkok bekanntlich auch noch andere Frauen. Dieser zynisch-kulinarische Umgang mit dem Fremden, so folgerte Huber, sei lediglich darauf fixiert, „den eigenen Lebensgenuß zu ermöglichen“. Das sei „ein durch und durch instrumentelles Verhältnis zum Fremden, „weil mir die von meinem Genuß und Nutzen unabhängige Würde und Lebenssituation des Fremden vollkommen egal sei.“
Kann denn Reisen Sünde sein? Der Tourismusforscher Steinecke warnte davor, den Urlauber mit dem „pädagogisch-moralischen Zugriff“ zu überfordern. Lernen dürfe nicht nur über den Kopf, sondern müsse „über alle Sinne“ laufen. Da die Fremdenfeindlichkeit von Jugendlichen ausginge, müßten Jugendreiseveranstalter und Jugendbegegnungsorganisationen aktiv werden. So seien im Rahmen des Anti-Gewalt-Programms des Berliner Senats auch Gelder für Jugendreisen vorgesehen.
Geus plädierte dafür, „von Kindesbeinen an das traditionelle Weltbild zu verändern“. Den Rassismus, der eine zivilisierte Tradition von der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus habe und der immer noch in unseren Köpfen stecke, könne man nur ausmerzen, indem man bei den Kindern beginne. Huber forderte einen „menschenrechtsorientierten Zugang, der die Würde und die Rechte der Fremden genauso ernst nimmt wie die eigenen, der sich aber vor der Verführung hütet, im anderen nur das Gute zu sehen“. Die Bildungs-, Einstellungs- und Orientierungsprozesse, die den Reisen vorangingen, seien genauso wichtig wie die Begleitung der Reise selbst. „Man sieht nur das, was man weiß.“
Fazit: Da hatte sich die Tourismusbranche jahrzehntelang nur auf den Fremdenverkehr als ökonomische Kategorie kapriziert und sich um jede Anteilnahme im Spannungsfeld Tourismus und Politik mehr oder minder elegant herumgedrückt. Und jetzt sitzt sie nolens volens in der Patsche und muß sich mit Sozialverträglichkeit des Reisens auseinandersetzen und politisch Flagge zeigen. Wo im eigenen Land Asylantenheime lodern, da bleiben nicht nur die devisenbringenden Japaner und Amerikaner weg. Auch uns Millionen deutscher Piefkes wird man in Österreich und anderswo nun genauer auf die Finger schauen.
Das eindringlichste Schlußplädoyer hielt Professor Huber: „Wenn es dieser Gesellschaft jetzt nicht gelingt, angesichts der Ausländerfeindlichkeit zu erkennen, daß es nicht genügt, erst dann zu protestieren, wenn die Umsatzchancen einer Branche zurückgehen, sondern dann zu protestieren, wenn universale Maßstäbe der Menschenwürde und der Menschenrechte verletzt werden, dann könnte das genau eine der Weichenstellungen für diese Gesellschaft sein.“
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