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Der Krieg um die Seelen

■ George Orwells wiederentdeckte BBC-Kommentare aus den Jahren 1941-43

Es waren die Nazi-Propagandisten selbst, die schon vor der „Machtergreifung“ vom Rundfunk als zentralem Instrument der Massenmanipulation sprachen. Während des 2. Weltkriegs, als der „Kampf um die Seelen“ (Winston Churchill) zur „zweiten“ Front wurde, standen die westlichen Alliierten vor der Aufgabe, der zum Teil geschickten Propaganda der Achsenmächte so entgegenzutreten, daß unzuverlässige Kantonisten bei der Stange gehalten und mächtige Verbündete nicht vergrätzt wurden. Welche Taktiken waren angebracht, um die Furcht vor dem neuen Verbündeten Stalin zu zerstreuen? Oder wie konnte man nationale Befreiungsbewegungen innerhalb des Britischen Empire, z.B. den Indischen Kongreß, davon abhalten, mit den Japanern statt der eigenen Kolonialherrn zu gehen? Hier hing in der Politik wie in der Propaganda viel an „glaubwürdigen“ Figuren, denn wenn Winston Churchill Stalin lobte, konnten die ängstlichen Gemüter sicher sein, keinen romantischen linken Oxford-Intellektuellen vor sich zu haben. „Glaubwürdig“ war auch George Orwell, der unbestechliche Linke. Damals schon ein bekannter Autor, ein Kenner Indiens wie auch ein unbedingter Anhänger der indischen Unabhängigkeitsbewegung.

Der britische Propagandaapparat bzw. die BBC tat daher einen guten Griff, als man George Orwell mit der Aufgabe betraute, für die indischen Hörer wöchentliche Kommentare zum Geschehen auf den Kriegsschauplätzen in aller Welt abzufassen. Orwell war für die Rundfunkanstalt bereits als literarisch-politischer Kommentator tätig (diese Arbeiten sind 1985 erstmals veröffentlicht worden). Seine Kriegskommentare – geschrieben von Ende 1941 bis Anfang 1943 – wurden von indischen Sprechern verlesen und waren fast durchweg anonymisiert. Nur der Wühlarbeit des späteren Herausgebers W.J. West im Written Archives Centre der BBC ist es zu danken, daß Orwell als Autor identifiziert und die Früchte seiner Propagandaarbeiten veröffentlicht wurden – dankenswerterweise jetzt auch in deutscher Sprache.

Orwells direkter Gegner im Rundfunkkrieg, ein äußerst gefährlicher Mann, den er in seinen Sendungen nie auch nur beiläufig erwähnte, saß – im Berliner Rundfunkhaus. Es war Subhas Chandra Bose, neben Nehru sicher der populärste Führer der Kongreßpartei. Sein Sender „Azad Hind“ (Freies Indien), der die BBC nicht unwitzig als „Bluff- and Bluster- Corporation“ verspottete, vermied es, sich allzusehr mit der Nazi-Ideologie zu identifizieren. Er schwamm auf der generellen „Quit India!“-Linie, die der Kongreß gegenüber den Engländern eingeschlagen hatte und profitierte von der Angst vor den Japanern, deren Invasion Indiens unmittelbar bevorzustehen schien.

Die Kriegskommentare müssen als Botschaft Orwells an die nationalistischen, aber in der Frage des Antifaschismus schwankenden indischen Intellektuellen gelesen werden. Um sie zu überzeugen, entwickelt Orwell eine glänzende Szenario-Technik, die den Achsenmächten Japan und Deutschland nicht nur gegenwärtige, sondern auch zukünftige militärische Erfolge gutschreibt, um dann desto sicherer ihre unabwendbare Niederlage nachzuweisen. Die „objektive“ Seite der Beweisführung basiert auf der vergleichenden Analyse der Produktionskapazitäten, Ressourcen und Kommunikationsmöglichkeiten. Ferner auf dem Kontrast zwischen der „Neuen Ordnungs“-Ideologie der Nazis bzw. der „großasiatischen Wohlstandssphäre“ der Japaner und der Realität der Ausbeutung in den von den Achsenmächten versklavten Ländern. Die „subjektive“ Seite besteht in dem Nachweis, daß sich die Bevölkerung der besetzten Gebiete mit der Okkupation nicht abfindet und daß die Menschen in den Ländern der Anti-Hitler-Koalition vollständig hinter den Kriegsanstrengungen ihrer Regierungen stehen. Hier hat Orwell als Kommentator gleich mit mehreren Schwierigkeiten zu kämpfen. Er ist laut Instruktion verpflichtet, die mobilisierenden Kräfte des Sowjetsystems herauszustreichen, von dessen totalitärem Charakter er überzeugt ist. Schließlich soll er das unverantwortliche Handeln der indischen Unabhängigkeitsführer anprangern, eine Aufgabe, der er sich schlicht entzieht.

Auch wenn man den spezifischen politischen Kontext von Orwells Kommentaren abstreicht, bleiben sie hellsichtige, im Urteil absolut sichere, überaus lesenswerte Dokumente der Zeitgeschichte. Nur eines sollte man mit ihnen nicht machen: sie zur unmittelbaren Quelle von „1984“ hochstilisieren. Da standen Orwell ganz andere Erfahrungen zu Gebot. Dies der einzige, aber verzeihliche Fehler des Herausgebers. Christian Semler

George Orwell, Von Pearl Harbor bis Stalingrad: Die Kommentare zum Krieg. Hrsg. W.J. West, Europaverlag 1993, Preis DM 52.-

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