: Der innere Feind
Kritiker sind in der Ukraine durch eine irrationale Gesetzgebung gefährdet. Geschützt werden Staat und gesellschaftlich Ordnung, Menschenrechte stehen an zweiter Stelle ■ Von Irena Maryniak
„Welche Ukraine“, fragt noch so mancher taktlos oder uninformiert, „die russische oder die polnische?“ Aber selbst nach sieben Jahrzehnten Sowjetherrschaft und 18 Monaten Unabhängigkeit unterscheiden sich der Osten und Westen des Landes tatsächlich noch erheblich voneinander.
Kiew war Zentrum des mittelalterlichen Staates des Kiewer Rus. Als Hauptstadt der modernen Ukraine geht die Stadt mit eher behäbigem Tempo zu Werke. Es gibt Zeichen eines kontrollierten Marktwachstums: überall stehen Verkaufsstände, die Preise der Waren sind angeschrieben, das Geschäft geht gut. Man spürt, daß die Veränderungen mit fester Hand kontrolliert werden – Präsident Krawtschuk und seine Minister sind im Fernsehen und in den Printmedien ständig präsent.
Lwiw (Lwow/Lemberg), etwa 500 Kilometer westlich von Kiew, geriet zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert und dann noch einmal zwischen den beiden Weltkriegen in diesem Jahrhundert unter polnische Herrschaft. Heute hinterläßt es im Besucher einen leicht verblichenen, ausgezehrten Eindruck. Seine reich geschmückten Fassaden erinnern an das einst blühende intellektuelle und kulturelle Zentrum, das diese Stadt einmal war; jetzt liegt sie merkwürdig isoliert und nach innen gekehrt an der Westgrenze der Ukraine. Auch politisch wirkt Lwiw ziemlich verloren. Es war eine der ersten Regionen, in denen die Demokratische Partei 1990 gewann und ist bis heute den Prinzipien der nationalen Souveränität und der Reform treu ergeben.
Inzwischen ist es fast vergessen, aber im letzten Sommer herrschte Aufregung in beiden Städten, und in beiden Fällen ging es um angesehene Journalisten. In Kiew zentrierte sich das öffentliche Interesse um den jungen Mykola Knjasitsky, einen früheren Fernsehkommentator. Er hatte in einem Interview mit der unabhängigen Zeitung Nezavisimost (Unabhängigkeit) gesagt, daß die Ukraine politisch und ökonomisch immer noch in den Händen von kommunistischen Apparatschiks sei, die sich jetzt nur die Nationalfarben umgehängt hätten. Die Behörden, so der Journalist, seien zutiefst in mafiotische Strukturen verstrickt und hätten bisher weder das Bedürfnis noch die Kompetenz bewiesen, ein souveränes, demokratisches Gemeinwesen schaffen zu wollen. Er sprach über die Gefahren einer kollektiven Psyche, die sich nur über einen Feind herstellt: früher waren es die USA, dann Rußland. Da wäre es nur logisch, wenn man demnächst einen inneren Feind im Lande selbst ausmachen würde.
Seine Äußerungen waren scharf genug, um die Staatsanwaltschaft auf den Plan zu rufen. Er wurde beschuldigt, durch seine Charakterisierung als „Gangster, Zuhälter und Nazi“ Ehre und Würde des ukrainischen Präsidenten verletzt zu haben. Verhöre wurden geführt, Verhaftung angedroht, die Medien wurden aufmerksam. Präsident Krawtschuk wurde nach seiner Meinung befragt und ließ wissen, daß dies wohl ein Fall für das Gesetz sei.
Ungefähr zur gleichen Zeit verlor in Lwiw die älteste unabhängige Zeitung der Stadt Za Vilnu Ukrainu (Für eine freie Ukraine) nach wochenlangen Nötigungen, Drohungen und Gewalttätigkeiten von nationalistischen Banden, die der rechten Gruppierung „Ukrainische Nationalversammlung“ (UNA) und ihrem militärischen Flügel „Ukrainische Nationale Selbstverteidigung“ (UNSD) nahestehen, ihren Gründungsredakteur Wasil Basyw.
Offiziell hieß es, Basyw habe nach Korruptionsanwürfen seinen Posten freiwillig aufgegeben. Basyw selbst und der geschäftsführende Redakteur Bohdan Wowk erklärten, er sei aus der Zeitung herausgedrängt worden von denen, die sowohl gegen die moderate Politik der Zeitung als auch gegen ihren Antrag auf staatliche Zuschüsse von einer nur mäßig reformierten Regierung seien.
Den ganzen Sommer schlugen die Wogen hoch: Es gab Demonstrationen vor dem Zeitungsgebäude und Blockaden, Sitzungen wurden unterbrochen und die Redaktion „instruiert“, wie sie gefälligst zu berichten habe, es gab Gewaltakte und endlose Drohungen. Die Polizei blieb passiv, und Basyw sah sich schließlich gezwungen, einen „verlängerten Urlaub“ zu nehmen.
Diese „Fälle“ sind inzwischen beide „gelöst“. Knjasitsky erhielt eine schriftliche Entschuldigung von der Staatsanwaltschaft im November 1992, kurz nachdem Premierminister Witold Fokin von Leonid Kutschma ersetzt worden war. Wasyl Basyw wurde im Dezember 1992 zum Presse- und Öffentlichkeitsberater der Stadt und Region von Lwiw ernannt – eine Position, die ihn offiziell zwar rehabilitiert, aber gleichzeitig auch seinen Einfluß beschneidet.
Selbst unter einer stärker reformorientierten Regierung und mit einer kohärenter organisierten Opposition unter Wyatscheslaw Tschornowil bleibt die Position ukrainischer Bürger vor dem Gesetz ambivalent. Wer die Macht hat – oder sie zu haben glaubt –, versucht immer noch, die Dinge nach seiner Pfeife tanzen zu lassen.
„Unser Justizsystem ist in purer Bestrafungspolitik befangen“, sagt Wolodymir Kampo, früher Mitglied des inzwischen aufgelösten Präsidialrates für Gesetzesreform. „Unsere Gerichte sehen ihre Aufgabe darin, die gesellschaftliche Ordnung und den Staat zu schützen, und nicht etwa darin, die Menschenrechte aufrechtzuerhalten oder durchzusetzen.“ Als Erklärung setzt er hinzu: „Wir sind hier sehr konservativ. Wir sind aufgewachsen in den Traditionen eines Fundamentalismus, der seine Quelle im Kiewer Rus hat, eines bäuerlichen Gemeinwesens und der Kosakenrepublik. Dieses Traditionssystem wurde von Generation zu Generation weitervermittelt, so daß wir entweder zu radikaler Rebellion (wie 1917) oder zu absoluter Stagnation neigen. Dynamische Entwicklungen sind uns vollkommen fremd. Wir haben keine Übung darin, die goldene Mitte anzusteuern oder überhaupt rationale Entscheidungen zu treffen: unsere Geschichte verlief immer irrational. Dieses Erbe stellt heute das schwierigste Problem der ukrainischen Gesellschaft überhaupt dar. Auf eine Philosophie der Vernunft umzuschwenken scheint sehr viel schwieriger zu sein, als ein politisches System oder einen Staat einfach zu wechseln.“
Die Irrationalität des Gesetzes in der Ukraine wurde deutlich vorgeführt in dem Tanz, den die Staatsanwaltschaft mit Mykola Knjasitsky aufführte, und in den schikanösen Taktiken, mit denen man Wasil Basyw aus seiner Zeitung zu vertrieb. Wer von willkürlich vorgehenden Behörden oder vom Mob terrorisiert wird, hat zur Zeit in der Ukraine keine effektiven gesetzlichen Mittel, um sich zu wehren. Die wichtigste Menschenrechtsgruppe, die Helsinki-Union, wurde 1991 zu einer politischen Partei. Der Entwurf einer neuen Verfassung, der angeblich Paragraphen zum Schutz des Individuums enthält, ist immer noch in der Beratungsphase und wird noch monatelang nicht verabschiedet werden. Und neue Menschrechtsorganisationen gibt es zur Zeit wenige. Die Gefahren, vor denen Knjasitsky in seinem Kiewer Interview gewarnt hat – die Propagierung eines inneren Feindes und eine faschistische Entwicklung –, sind in Lwiw bereits deutlich sichtbar geworden. Beide Fälle zeugen von einem radikalen Nationalismus und Autoritarismus, der der gesamten Ukraine und ihrer Bevölkerung wieder drohen könnte, wenn nicht rechtzeitig gesetzliche Maßnahmen zum Schutz vor solcher Willkür in Kraft treten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen