: Warum reißt Stahl im AKW?
Auch Atomkraft-Fans sind beunruhigt über unerklärliche Risse, die überall in den AKW auftreten/ Greenpeace fordert sofortige Stillegung ■ Von Niklaus Hablützel
Berlin (taz) – Seit bald zwei Jahren grübeln Atomtechniker über einem Phänomen, das sie nicht erklären können: Stahl bester Sorte wird brüchig und rissig, wenn er in Atomreaktoren eingebaut wird. Ein Grund mehr, Atomkraftwerke in aller Welt abzuschalten, fordert die Umweltschutzorganisation Greenpeace, die gestern eine Studie über Reaktorrisse vorgestellt hat.
Aber nicht nur atomkritische Fachleute sind beunruhigt. 1991 schlug auch die französische Atom-Kontrollbehörde Alarm. Im AKW von Bugey leckte der Deckel eines Reaktordruckgefäßes. Erste Nachprüfungen ergaben, daß die Rohre, in denen die Steuerstäbe ins Innere des atomaren Feuers geleitet werden, Risse von bis zu zehn Zentimetern Länge aufwiesen.
Die Gefahr kann auch Atomfans um den Schlaf bringen: Die Leckage könnte zum Verlust des Kühlwassers führen, zugleich könnte die Funktion der Steuerstäbe soweit gestört sein, daß die atomare Kettenreaktion außer Kontrolle gerät – der offiziell nicht mehr anzunehmende größte Unfall der Kernschmelze wäre Wirklichkeit geworden.
Das Problem ließ sich nicht auf einen Einzelfall begrenzen. Ungefähr zur selben Zeit entdeckten deutsche Kontrolleure in Würgassen Risse in Schweißnähten eines völlig anderen Reaktortyps. Der Schaden blieb zunächst von der Öffentlichkeit ziemlich unbemerkt, dasselbe Phänomen tauchte aber auch in Ohu und schließlich in Brunsbüttel auf. Nun war es nicht mehr zu verschweigen. Aber auch in Frankreich wurden die Kontrolleure überall fündig. 13 von den 18 bisher in dieser Hinsicht kontrollierten Reaktoren sind schadhaft.
Die Gruppe Ökologie, Mitverfasserin der Greenpeace-Studie, vermutet einen Zusammenhang zur Bauart der Kraftwerke. Die brüchigen Einleitungsrohre der Steuerstäbe fanden sich bislang nur in sogenannten Druckwasserreaktoren. Das Material ist in dieser Technik besonders hohen Belastungen ausgesetzt.
Die französische Behörde vermutet, daß der eingesetze Stahl („Inconel-600“) den Anforderungen nicht genügt. Greenpeace verweist jedoch darauf, daß ähnliche Schäden schon in den 70er Jahren in sowjetischen Reaktoren aufgetreten seien, in denen sogenannter „austenitischer“ Stahl eingebaut wurde – eben jenes Material, das in deutschen Siedewasserreaktoren bislang gleichfalls nicht befriedigend erklärbare Risse in den Schweißnähten aufweist.
Stahlrisse an sicherheitsrelevanten Stellen von Atomreaktoren sind inzwischen auch in Schweden und der Schweiz entdeckt worden, die amerikanischen und japanischen Behörden haben Untersuchungen angekündigt. Schon jetzt ist sicher, daß die Schäden weit umfangreicher sind als bisher angenommen. Im Fall von Bugey haben Laborunteruchungen nicht bloß die zuerst festgestellten Längsrisse bestägt. Eines der Rohre war rundum angerissen – eben diese Schadensart war von der Kontrollbehörde bislang kategorisch ausgeschlossen worden.
Die französischen AKW Betreiber haben sich eine eigene Lösung des Problems einfallen lassen: Sie bauen spezielle Sensoren in rissige Reaktoren ein, die austretende Radioaktivität frühzeitig melden. Man hofft, die Anlage dann noch abschalten zu können.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen