: Jelzin hat es noch einmal geschafft
■ Volksdeputierte verzichten auf Amtsenthebungsverfahren gegen ihn
Moskau (AFP) – Der russische Präsident Boris Jelzin hat am Freitag bei der Sondersitzung des Volksdeputiertenkongresses im Moskauer Kreml einen Punktsieg errungen. Seine Absetzung erschien selbst seinen erklärten Gegnern nicht mehr wahrscheinlich. Parlamentssprecher Konstantin Slobin sagte am Rande der Sitzung, Jelzin werde nicht seines Amtes enthoben, weil sonst ein Bürgerkrieg in Rußland drohe. Die Regierungen der Autonomen Republiken und Gebiete der Russischen Föderation sprachen sich nach Angaben eines ihrer Vertreter für die von Jelzin geforderte Volksabstimmung am 25. April aus. Der Präsident des russischen Verfassungsgerichts, Waleri Sorkin, unterbreitete einen Kompromißvorschlag, der für eine Übergangszeit die Bildung einer Koalitionsregierung vorsieht und auf die Abschaffung des Volksdeputiertenkongresses hinausläuft.
Die Auflösung des noch aus der Breschnew-Ära stammenden, von konservativen Deputierten beherrschten Kongresses ist eines der Hauptziele Jelzins. Kurz vor der Eröffnung des Kongresses hatte Jelzin Finanzminister Wassili Bartschuk und Wirtschaftsminister Andrej Netschajew ihrer Ämter enthoben. Damit kam er den Reformbremsern entgegen, die auf dem Volksdeputiertenkongreß im Dezember den Rücktritt des ihrer Ansicht nach zu sehr „westlich orientierten“ Netschajew gefordert hatten.
Der Präsident des Obersten Sowjets (Parlament) der Karelischen Autonomen Republik, Viktor Stepanow, sagte auf der Sondersitzung des Volksdeputiertenkongresses, die Mehrheit der Vertreter von Exekutive und Legislative in den politischen Untereinheiten der Föderation sei für eine Vertrauensabstimmung der Bevölkerung über Präsident Jelzin. „Wir sind auch für den Vorschlag von Präsident Jelzin, die Frage nach vorgezogenen Neuwahlen zu stellen“, fügte Stepanow hinzu. Die mächtige Bürgerunion, der Arkadi Wolski, der Vorsitzende des Industriellenverbandes, und der russische Vizepräsident Alexander Ruzkoi angehören, befürwortete in einer Erklärung ebenfalls vorgezogene Parlaments- und Präsidentschaftswahlen. Diese auch von dem ehemaligen Präsidenten der UdSSR Michail Gorbatschow und dem Patriarchen lexi II. unterstützte Forderung findet offenbar immer mehr Anhänger.
Zu ihnen gehört seit Freitag auch der Präsident des russischen Verfassungsgerichts, der sich während des Machtkampfes zwischen Exekutive und Legislative bisher auf die Seite des Volksdeputiertenkongresses gegen Jelzin geschlagen hatte. Ein Ausschuß des Volksdeputiertenkongresses billigte der Nachrichtenagentur Interfax zufolge am Freitag einen Resolutionsentwurf, in dem Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 10. Oktober vorgesehen sind. Der Sekretär des Sicherheitsrates, Juri Skokow, sagte, zahlreiche weitere Resolutionen seien in Arbeit. Der Entwurf über Neuwahlen enthält einen Aufruf an den Obersten Sowjet, Verfassungsänderungen auszuarbeiten, die eine Abschaffung des Volksdeputiertenkongresses und die Einführung eines Zweikammer-Systems vorsehen. Dabei solle auch der „Status des Präsidenten“ festgelegt werden. Sorkin hatte sich am Morgen vor den Deputierten dafür ausgesprochen, den Kongreß durch ein Zweikammerparlament zu ersetzen. Dieses sollte ebenso wie der Präsident bei vorgezogenen Neuwahlen im Herbst direkt gewählt werden. Bis zu den Wahlen sei ein „Moratorium“ zwischen dem russischen Präsidenten Boris Jelzin und dem Kongreß erforderlich. Eine Koalitionsregierung müsse gebildet werden, die bis zum Herbst über besondere Vollmachten verfügen sollte. Sorkin warnte davor, daß „extreme Maßnahmen“ wie die Amtsenthebung des Präsidenten oder die Auflösung von Parlament oder Kongreß eine „Explosion“ hervorrufen könnten. Seite 8
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen