Der Kongreß rast

Der russische Parlamentspräsident Chasbulatow fordert erneut Amtsenthebung Boris Jelzins/ Delegierte wollen nun auch den Moskauer Bürgermeister absetzen  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Rußlands Parlament gerät außer Rand und Band. Einen Tag nach der gescheiterten Amtsenthebung Präsident Jelzins möchte sein Rivale, der Parlamentsvorsitzende Ruslan Chasbulatow, sich gleich noch eine Ohrfeige einfangen: „Wir müssen eine Resolution vorbereiten, die deutlich macht, daß wir zum gestrigen Impeachment zurückkehren, wenn der Präsident mit seinen Aufrufen zur Rebellion fortfährt“, drohte der Speaker in aggressivem Ton. Die Schlacht um die Machtverteilung zwischen Exekutive und Legislative hält an. Das Scheitern des Impeachments hat der Legislative und seinem wütenden Vorsitzenden keine Lektion der Mäßigung erteilt.

Im Gegenteil. Das Parlament verabschiedete eine Resolution, die schon am Sonnabend auf der Tagesordnung stand. Nach diesem Dokument sollen die präsidialen Kompetenzen noch weiter beschnitten werden. Die Volksdeputierten krallen sich mit letzter Kraft an ihre lukrativen Sessel, obwohl der Boden unter ihnen wegbricht. Folgerichtig lehnten sie auch die Einführung eines Zweikammernparlamentes ab. In der Resolution, die grundsätzlich Jelzins Vertrauensreferendum am 25. April billigt, ließen sie das Datum für die Wahlen zum neuen Parlament offen.

Über das Fernsehen reagierte Jelzins Pressesprecher Kostikow: „Indem der Kongreß – seine offene sowie seine geheime Führerschaft – den gefährlichen Kurs ständiger Verfassungsverletzungen eingeschlagen hat, trägt er volle Verantwortung für ihre provokativen Aktionen und die Störung des gesellschaftlichen Friedens. Der Kongreß hat sich in eine infernalische Maschine verwandelt, die den Frieden und die Stabilität Rußlands untergräbt“. Die Gesetzgeber zögerten nicht lange und leiteten die „Angelegenheit“ weiter an den russischen Staatsanwalt Stepankow. Dieser gehörte – wie sein Kollege vom Verfassungsgericht Sorkin – ursprünglich zu den Parteigängern des Parlaments. In den letzten Tagen haben sie sich jedoch auffallend rar gemacht.

Denn der Protest auf der Straße hat gezeigt, auf welcher Seite die Sympathien des Volkes sind. Am Wochende gingen in allen großen Städten Tausende auf die Straßen. In Moskau allein hunderttausend. Ganze sechs Prozent der Bevölkerung unterstützen nach neuen Umfragen den Kongreß in seinem Anliegen, die Macht zu usurpieren. Die Volksvertreter, erbost über die klare Stellungnahme, bezichtigten den Gegner gewalttätig zu sein und die Menschenrechte zu mißachten. Ein Abgeordneter präsentierte sich dem Parlament mit einer Binde um den Kopf. Er sei von Jelzin Anhängern provoziert worden.

Zu Schlägereien war es am Sonntag, als die Menge vor dem Kreml auf die Ergebnisse des Impeachment wartete, aber gar nicht gekommen. Dort herrschte eher ausgelassene Stimmung. Man sang und witzelte. War sich seiner Sache eigentlich sicher. Das Parlament wollte dies jedoch nicht glauben. So zitierte es Moskaus Bürgermeister Luschkow herbei, der für die angeblich mangelnden Sicherheitsmaßnahmen Rede und Antwort stehen sollte. Dieser jedoch sah keinen Anlaß zur Kritik. Alles sei schließlich ruhig verlaufen. Das Parlament, wieder einmal in Verkennung seiner Befugnisse, drohte nun auch ihm, ihn aus dem Amt zu entfernen. Die russische Legislative läuft Amok und sieht nicht, daß sie sich zum Gespött der Menschen macht. Keiner nimmt sie noch ernst, keiner fürchtet sie. Schon gar nicht ihren Vorsitzenden Chasbulatow, den die Menge am Sonntag abend „zurück in die Berge“ verwünschte – nach Tschetschenien, wo er herkommt.

Der Vorsitzende hat nicht erkannt, daß er sein eigenes Grab schaufelt, wenn er Jelzin stürzt. Denn die „Rot-Brauen“, die ihn am Sonntag gegen ihre eigentliche Absicht im Amt bestätigten, würden sich seiner sofort entledigen, wenn sie ihn nicht mehr als Rammbock gegen den Präsidenten benötigen würden.