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Im Reich der Grufties

In der unterirdischen Gruft der nahezu dreihundert Jahre alten Parochialkirche am Molkenmarkt im Bezirk Mitte liegen noch 160 Mumien  ■ Von Julia Gerlach

Mitte. „Keine Angst. So gruselig ist es gar nicht“, beruhigt Udo Klink, Archivar der Parochialkirche in Mitte, und schließt die schwere Eisentür auf. Über eine steinerne Wendeltreppe gelangt man in die Gruft. Drunten hallen die Schritte durch ein Labyrinth von niedrigen, schwach beleuchteten Gängen.

Bis 1870 wurden in den Gewölben unter der barocken Kirche in der Klosterstraße Gemeindemitglieder beerdigt. „Das war schon was Feineres. Das konnte sich nicht jeder leisten“, erklärt Udo Klink. Oberer Mittelstand und Angehörige des preußischen Hofes fanden hier ihre letzte Ruhe. Bis zu vierhundert Särge seien hier unten gestapelt worden. Oft hätten die Angehörigen der Toten den Platz in der Gruft nur für ein oder zwei Jahre gemietet. Dann wurden die Särge woanders verscharrt, und andere Tote bekamen ihren Platz in im Gewölbe.

Wer hinter jeder Biegung meint, auf Überreste der Toten zu stoßen, wird enttäuscht. Aus allen begehbaren Teilen der Grabstätte sind die Toten seit vielen Jahren entfernt. Zurückgeblieben sind nur leergefegte Räume, die ebenso langweilig sind wie Omas Kohlenkeller. Mumien befinden sich heute nur noch im zugemauerten Teil der Gruft. „Vor allem im Sommer muß es hier fürchterlich nach Verwesung gestunken haben“, glaubt er. Aus diesem Grund wurde die Gruftbestattung auch eingestellt.

„Früher hatten die Leute noch ein anderes Verhältnis zum Tod“, erzählt der Archivar. Ein berühmter Geheimrat sei über den Tod seiner jungen Geliebten verzweifelt und habe sich nicht trennen wollen. Er habe ihr dann einen Sarg mit Fenster bauen lassen und sie oft besucht. In Krisenzeiten, beispielsweise unter der napoleonischen Besetzung, habe man den Keller auch mal als Versteck für den Kirchenschatz benutzt.

Den zugemauerten Teil der Gruft kann man heutzutage nur noch durch ein kleines vergittertes Fenster inspizieren. Ein leichter Zug schlägt einem entgegen. Die Flamme eines Feuerzeugs reißt einen Schutthaufen aus dem Dunkel, aus dem sich eine verschrumpelte Hand reckt. Wie viele von diesen vertrockneten Gesellen sich hinter der Mauer verbergen, weiß auch der Archivar nicht genau. „1940 waren es ungefähr 160. Seitdem wurden sie nicht mehr gezählt“, sagt er.

Warum die Toten in der Gruft nicht verwesten, sondern mumifiziert wurden, ist nicht zu klären. Der Archivar macht dafür den beständigen Durchzug verantwortlich. Dieser durchlüftete alle Kammern und trocknete die Leichen aus, vermutet er.

Am Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die Parochialkirche von einer Brandbombe getroffen. Auch das Gewölbe mit den Mumien wurde verschüttet und ist es teilweise bis heute. Völlig unzugänglich aber kann die Gruft nicht gewesen sein: „Irgendwann in den achtziger Jahren muß sich jemand einen Spaß gemacht haben und eine der mumifizierten Leichen herausgeholt und in den U-Bahn- Schacht gesetzt haben“, erzählt er grinsend. Die Behörden hätten sich damals ziemlich gewundert, als eine Verstorbene gefunden wurde, die schon seit 150 Jahren tot war.

Zu DDR-Zeiten wurde die Kirche als Möbellager genutzt. Die kleine Gemeinde feierte ihre Gottesdienste in einem Turmzimmer. Sie hat sich vorgenommen, den barocken Bau bis 1995, zum 300. Geburtstag, fertig zu renovieren. Noch aber fehlt es an Geld. Bisher gibt es noch keine konkreten Pläne, was mit dem Keller und seinen Insassen passieren soll. Möglicherweise soll daraus mal ein Museum werden. Vielleicht bleiben die Toten auch einfach, wo sie sind, und sorgen für Gerüchte.

„Hier wohnt weit und breit niemand mehr“, sagt Pastor Friedrich Wilhelm Hünerbein. Von den kleinen Häuschen, die früher um die Kirche herumstanden, wurden nur zwei nach dem Krieg wieder aufgebaut. Auf die freigebombte Fläche setzte die DDR Regierungsgebäude. „Bisher war da drüben das Gebäude des Ministerrats, jetzt sind Bundesarbeitsministerium und Bundeskanzleramt eingezogen.“ Eine trostlose Gegend.

Das konnte die Neugierigen jedoch nicht abschrecken. Es hat immer Leben in der Gruft gegeben. Das beweisen die eingeritzten Namen und Jahreszahlen in der Kalkwand an der Treppe. „Klar, es hat auch in der DDR Grufties gegeben, die im Keller rumgekrabbelt sind. In letzter Zeit haben wir aber keine mehr gesehen.“

Der Archivar klimpert mit den Schlüsseln. „Hoffentlich haben wir jetzt niemanden vergessen.“ Er zuckt mit den Achseln: „Der wird auf jeden Fall gut konserviert“, sagt er und knallt die Tür zu.

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