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Die Realität dauert meist zu lange Von Andrea Böhm

Was ist schneller – Fiktion oder Realität? In Waco, Texas, befinden sich die beiden Kontrahenten zur Zeit in einem Kopf-an-Kopf- Rennen. Zur Auffrischung des Gedächtnisses: In dieser Stadt halten sich seit rund vier Wochen Anhänger der Sekte der Davidianer unter ihrem „Messias“ David Koresh mit einer stattlichen Anzahl an Maschinengewehren, Handgranaten und anderen biblischen Instrumenten verschanzt, während sich drumherum inzwischen ein Heerlager aus Beamten des FBI und des Bureau for Alcohol, Tobacco and Firearms (ATF) sowie Journalisten gebildet hat. CNN hat sogar ein kleines Mediendorf errichtet und auf den Namen „Camp David“ getauft.

Doch wie lange der Nervenkrieg noch dauern soll, wissen die Götter. Zumindest wartet Koresh auf deren Signale, während sich die Polizisten die Beine in den kugelgesicherten Bauch stehen und versuchen, die Sekte durch Musikberieselung weichzuklopfen. Zur Zeit dröhnt Alice Cooper aus den Lautsprechern.

Doch die Realität dauert zu lange, weshalb Filmproduzenten und TV-Gesellschaften nun erwägen, ihr mit der Fiktion davonzueilen: NBC hat bereits Drehort und Schauspieler ausgesucht und will Anfang April mit der Verfilmung der „Waco-Story“ beginnen. Zugegeben, noch warten die Autoren mit gespitzten Griffeln darauf, das Drehbuch zu Ende schreiben zu können, wobei es ihnen völlig egal ist, ob Koresh endlich aufgibt oder das FBI zum blutigen Großangriff ansetzt.

Als Alternative bietet sich an, das Ende der Geschichte einfach zu erfinden. Für die Realität interessiert sich womöglich keiner mehr. Oder aber man produziert das Drama als hochaktuelle Serie parallel zum tagtäglichen Geschehen in Waco. Auch für ABC und CBS ist die „Waco-Story“ noch heiß. Da NBC einen Film aus Sicht der Polizei drehen will, bleibt noch jede Menge Sendeplatz für „Waco-2“ aus der Sicht von David Koresh; für „Waco-3“ aus Sicht von Koresh's Mutter, die ihre Geschichte bereits für 75.000 Dollar an eine Produktionsfirma verkauft hat; für „Waco 4“ aus Sicht einer der neunzehn Ehefrauen des Sektenführers. Titel: „Mein Leben mit David Koresh“. (Persönliche Anm. d. Autorin: Nichts von dem oben genannten ist satirisch überspitzt oder gar erfunden. Es ist pure Realität.)

Katastrophen im Fließbandverfahren zu TV-Seifenopern zu verwursten, garantiert hohe Einschaltquoten und Werbeeinnahmen. Produzenten müssen nur schnell sein, immer das Funktelefon bei der Hand haben und die Nummer der TV-Gesellschaft am besten anwählen, bevor die Bombe explodiert oder das Flugzeug abgestürzt ist, die Geiseln erschossen wurden oder der Hurrikan sich verzogen hat. Den derzeitigen US-Geschindigkeitsrekord hält die „Castle Rock“-Produktionsgesellschaft in Los Angeles. Noch während aus dem zerbombten World Trade Center Menschen evakuiert und Leichen und Verletzte abtransportiert wurden, beauftragte die Firma einen ihrer Spürhunde in New York, nach den rührseligsten Einzelschicksalen Ausschau zu halten. Das Endprodukt – unter anderem über einen Börsenmakler, der einen Kollegen im Rollstuhl durch das verqualmte Treppenhaus getragen hat – gibt es in ein paar Monaten auf NBC.

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