: Lernen, die Bombe zu lieben
Die Menschen in Nordbrandenburg feierten erst vor zwei Jahren das Kriegsende — und ahnten nicht, daß es nur ein Waffenstillstand war/ Die Bundeswehr übernimmt den Bombenabwurfplatz ■ Aus Wittstock Michaela Schießl
So etwas hat Verteidigungsminister Volker Rühe noch nicht erlebt: aufsässige Bürger aus dem Osten! Wo doch alle Welt weiß, daß die Ex-DDRler völlig depressiv sind, gelähmt in Opferhaltung, enttäuscht, paralysiert und erstickend im Selbstmitleid. Und doch sitzt da nun diese Gruppe Widerspenstiger und weigert sich, die heiligen Hallen der Bonner Hardthöhe zu verlassen. „Wir haben einen Termin mit Rühe, und wir bleiben, bis er kommt.“ – „Da können Sie lange warten“, sagt der Staatssekretär. Die Gruppe wartet lange. Gegen 9 Uhr abends gibt der Rühe-Knecht entnervt auf. „Lassen Sie mich nach Hause, ich habe Frau und Kinder.“ Er darf, aber erst, als er verbindlich einen Termin mit seinem Dienstherrn vereinbart, für den kommenden Nachmittag, am 10. September 92.
„Na sehen Sie, es geht doch“, feixt Annemarie Friedrich, Sprecherin der Bürgerinitiative FREIeHEIDe, und packt ihre Sachen wieder zusammen. Die 72jährige hatte sich schon für eine Übernachtung im Verteidigungsministerium zurechtgemacht. „Irgendwann muß er ja kommen und uns anhören“. Nichts Unanständiges ist es, worum die kämpferische Gruppe aus dem Norden Brandenburgs bittet. Sie wollen das Ende des Krieges.
Für die Bewohner der Landkreise Wittstock, Neuruppin und Kyritz, dem Tor zum Urlaubsgebiet Mecklenburgische Seenplatte, hat der Krieg nie aufgehört. Seit 1948 schwirren Granaten, Raketen, Gewehrkugeln um ihre Dörfer – und schwere Bomben. Die Häuser der Region sind von den ständigen Detonationen voller Risse, die Dächer kommen regelmäßig runter, Fenster werden durch die Druckwellen eingedrückt. „Wenn der Panzer hier langfährt, wackelt das Fundament.“ Entschädigungen gab es noch nie. Die Menschen leben am ehemaligen Bombodrom der Warschauer-Pakt-Staaten, einem riesigen Bombenabwurfplatz. Ein Leben an der Front.
Herr Rühe mag es nicht, wenn der Bürger ihm zu nahe kommt. Äußerst ungehalten gab er sich tags drauf, obgleich die Bürgerinitiative ihre höflichste Vertreterin zur Ansprache vorgeschickt hatte. „Die BI FREIeHEIDe möchte die Übernahme des Truppenübungsplatzes durch die Bundeswehr verhindern“, sagte die junge Frau. Sie hat im fraglichen Gebiet 400.000 Mark in einen Campingplatz investiert, doch wer will schon Urlaub machen an der Front? „Wir wollen keine Bomben mehr, weder russische noch deutsche. Wir wollen Frieden.“ Und die einzige Möglichkeit nutzen, die diesem strukturschwachen Gebiet nach dem Zusammenbruch der bescheidenen Industrie und den LPGs noch bleibt: den Tourismus.
Ein Weg, der eingeleitet wurde, gleich nachdem das Verteidigungsministerium 1990 sein Desinteresse am Bombodrom bekanntgegeben hatte. Die Gemeinden gründeten einen Zweckverband und fanden Investoren: der Campingplatz in Schweinrich, ein Sporthotel in Sewekow, ein Ferienzentrum in Dranse, ein Freizeitpark in Zechlin. In Rossow sollte Kies abgebaut werden. Projekte, die alle zu scheitern drohen, seit Volker Rühe im Sommer 1992 umgeschwenkt ist. Seine Militärs wollen nun doch Bomben schmeißen.
„Ihre Gegend ist nicht tourismuswürdig“, schrie Rühe ärgerlich die BI-Vertretung an und sprach von Opfern, die für die Verteidigung der Freiheit gebracht werden müssen. „So etwas Unverschämtes“, sagt Frau Friedrich, „sei ihr noch nie untergekommen.“ Die Bürger zogen ab. Aufgeben tun sie nicht.
Als am Dienstag dieser Woche die endgültige Entscheidung zur Übernahme des Bombodroms durch die Bundeswehr bekannt wurde, ist Annemarie Friedrich keine Enttäuschung anzumerken. Kraftvoll wie immer fuhrwerkt sie durchs Zimmer. Ihr Haus liegt wunderschön in Flecken Zechlin, mit Blick auf den See. „Schaut schön aus“, sagt sie, „schade nur, daß die Seen wie ein Resonanzboden wirken.“ Die Wände sind von Rissen durchfurcht.
„Wir lassen uns durch die Entscheidung nicht entmutigen. Alles, was juristisch möglich ist, schöpfen wir aus.“ Eine Verfassungsklage etwa, um die quasi Zwangsenteignungen des Bodens rückgängig zu machen. „Die Kaufverträge sind mit vorgehaltener Waffe gemacht worden.“ Hoffnung macht auch die Entscheidung des Berliner Kammergerichts, wonach Urlaubern eine Entschädigung zusteht, wenn ein tieffliegender Tornado die Ferien stört.
Annemarie Friedrich denkt nicht daran zu gehen. 1949 kehrte sie Berlin den Rücken, weil eine Bombe ihr Haus zerstörte. Sie ging als Lehrerin nach Flecken Zechlin. Dann begann der Terror mit Panzern und Schießübungen, seit Anfang der 60er Jahre wird gebombt. „Meine Kinder habe ich unterm Tisch erzogen, dorthin sind die immer geflüchtet vor Angst. Tag für Tag, Nacht für Nacht donnerten die MiGs, und dann die Detonationen.“ In Manöverzeiten dröhnten täglich dreißig bis vierzig Düsenjäger über ihr Dach. „Man kann sich daran gewöhnen“, sagen die Anwohner.
Auch daran, daß 1984 ein Fehlwurf dreißig Meter neben dem Zechliner Kindergarten runterging. Oder die Bauern ab und an eine Bombe auf der Presse haben. Und daß das stillgelegte, strahlende AKW Rheinsberg in der Einflugschneise liegt. Doch seit der Wende haben sie sich an die Stille gewöhnt. Nur noch ganz selten sprengen die GUS-Soldaten ihre Restmunition.
Angefangen hat der ganze Horror in der Schweinricher Kneipe „Zum Dorfkrug“. Werner Sperling (70), dem Seniorchef, fällt das Reden schwer. „1948 haben die Deutschen und die Russen alle Bauern der Gegend hier zusammengerufen. Sie haben eine Knarre auf den Tisch gepackt und uns mitgeteilt, daß wir unser Land hergeben müssen. Vorerst zur Pacht, später wurden wir zum Verkauf gezwungen, für einen lächerlichen ,Freundschaftspreis‘. Wir durften nur noch abernten, dann zogen die einen Zaun.“ Ohnmächtig mußten die Bauern zusehen, wie ihr Wald hektarweise abgebrannt wurde. Borkenkäferbefall, lautete die offizielle Begründung. Manchmal auch: Waldbrand aus ungeklärten Ursachen. „Wir durften ja nichts sagen, aber wenn der kleine Doppeldecker aus Neuruppin angeflogen kam, mit dem Benzin an Bord, wußten wir schon, daß der Wald gleich wieder brennt.“
120 Quadratkilometer Land wurde auf diese Weise truppenübungstauglich gemacht, die gesamte Fläche zum militärischen Sperrgebiet erklärt, und los ging das Dauerbombardement. Der Zaun trennt noch heute die Dörfer. „Am Anfang schlichen wir uns noch zum Pilzsammeln rein, wurden aber sofort beschossen.“
Wer von Flecken Zechlin ins sieben Kilometer entfernte Schweinrich wollte, mußte bis vor kurzem noch 45 Kilometer fahren, um das Bombodrom herum. Erst vor einem dreiviertel Jahr gaben die Soldaten die Verbindungsstraße von Schweinrich nach Zechlin frei – die erste Möglichkeit seit Jahrzehnten, einen Blick in das gesperrte Land zu werfen. Auf das, was von der fruchtbaren Heide übriggeblieben ist: eine plattplanierte Mondlandschaft mit getarnten Unterständen und einer großen Tribüne, wo die Offiziere die Manöver begutachteten. Der gesamte Boden ist voller Narben, hineingeschnitten von scharfen Panzerketten. Keiner kann sich vorstellen, wie es dort aussieht, wo die Bomben abgeworfen wurden. Denn keiner traut sich hin. Lebensgefahr! steht auf den Schildern. Überall können Blindgänger liegen. Oder Schlimmeres.
„Das Gebiet müßte zwanzig Jahre lang brachliegen, bevor man es überhaupt wieder betreten kann“, schätzt Pfarrer Benedikt Schirge aus dem 250-Seelen-Dorf Zühlen. „Die Sanierung kostet mindestens 100 Millionen Mark.“ Da hilft kein Beten, sagt der Pfarrer. Und kopiert, frankiert, faxt und telefoniert. Und redet, redet, redet, bis der Mund ganz trocken ist. Dann schmeißt er sich in seinen Trabi-Kombi und fährt übers Land, in Sachen Mensch. „Die Leute müssen begreifen, daß ihr Schicksal nicht gottgegeben ist“, sagt der Gottesmann. Er erledigt die Pressearbeit für die Bürgerinitiative.
„Der Großteil der Menschen hier ist gegen das Bombodrom“, weiß Schirge. Nur manche trauen sich schon nicht mehr, seit die Bundeswehr einen gemeinen Köder ausgeworfen hat: Arbeitsplätze. Vorläufige Bewerbungen, ganz ohne Verbindlichkeit, werden von der starken Truppe entgegengenommen. „Eine Frechheit“, findet Schirge. „Die nutzen die Not der Menschen aus.“ Fast ein Viertel der Bevölkerung in der Region ist arbeitslos.
Doch die Unterstützung für die FREIeHEIDe ist trotzdem breit. In allen anliegenden Dörfern stehen Schilder: „Freiheit für die Heide, Adler statt Bomben, den Himmel den Vögeln.“ Der Sohn des Kneipenbesitzers Sperling stellt kostenlos die „Dorfkrug“- Räume für die Versammlungen zur Verfügung. Ein CDU-Landrat aus Kyritz hat 1.000 Mark gespendet, obgleich die Bundes-CDU den Truppenübungsplatz erhalten will. Andere Parteimitglieder, so die Frau Bundestagsabgeordnete aus dem Wahlkreis, Rosemarie Priebus, nutzen den Streit ums Bombodrom zur Profilierung. Nachdem Priebus anfänglich die BI auf ihren friedlichen Mahnmärschen begleitet hat, ahnt sie, von Bonn auf Linie gebracht, plötzlich ein zweites Wackersdorf. In einem Brief an die CDU-Funktionäre aus Kyritz und Neuruppin warnt sie vor „den Geistern, die gerufen werden“, wenn die BI am Ostersonntag, 14 Uhr, zur bundesweiten Demonstration nach Fretzdorf bittet und fragt: „Wollen Sie es verantworten, daß die Landkreise zum Truppenübungsplatz für Autonome werden“?
Benedikt Schirge lacht sich schlapp über Frau Priebus. „Wackersdorf ist so schlecht doch nicht“, sagt er, „die hatten immerhin Erfolg.“ Doch schnell setzt er hinzu: „Die BI FREIeHEIDe setzt natürlich auf Gewaltfreiheit.“
Mit phantasievollen Aktionen jedoch darf gerechnet werden. Die benachbarte Autobahn lockt zur Sperrung, die offene Straße durchs Sperrgebiet, die unter fadenscheinigen Begründungen wieder geschlossen werden soll, könnte besetzt werden. „Wenn die die Straße wieder dichtmachen, bin ich erledigt“, sagt Kneipier Sperling junior. „Wenn sie das versuchen, gibt's böses Blut.“ Denn, wie Annemarie Friedrich bestätigt: „Den Leuten hier reicht's langsam. Die haben den Knüppel in der Hand.“
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