Abschied vom Krankenschein

■ Ab heute wird die Krankenversichertenkarte schrittweise eingeführt/ Datenschutzrechtliche Bedenken

Berlin (taz) – Der bald hundert Jahre alte Krankenschein hat ausgedient. Ab dem 1. April wird er schrittweise von der Krankenversichertenkarte abgelöst. Den Anfang macht Wiesbaden, es folgen im Sommer Böblingen und Weimar, und Anfang nächsten Jahres soll die Umstellung abgeschlossen sein.

Die Einführung der maschinenlesbaren Chipkarte wurde bereits im Zuge der letzten Gesundheitsreform 1988 beschlossen. Sie soll als ständiger Begleiter im Kartenfach aller gesetzlich Krankenversicherten vor allem „Transparenz in das Leistungsgeschehen“ beim Arztbesuch bringen. Angesichts der Riesensummen, die beim Geschäft mit der Gesundheit umgesetzt werden, wollen die Kassen auch mit High-Tech-Hilfe auf die Kostenbremse treten. Neben Verwaltungsvereinfachungen erhofft man sich Einsparungen durch die verbesserte Kontrolle der Verordnungspraxis der ÄrztInnen.

Für die PatientInnen ändert sich auf den ersten Blick nicht viel. Statt des Krankenscheins müssen sie künftig beim Arztbesuch ihre Chipkarte vorlegen, auf der neben persönlichen Angaben wie Name und Anschrift die Versichertennummer, die Krankenkasse und die Gültigkeitsdauer der Karte gespeichert sind. Ein Lesegerät nebst angeschlossenem Drucker erstellt dann automatisch Rezeptvordrucke und Abrechnungsformulare – und die PatientInnendaten landen, so vorhanden, im Praxiscomputer. Neu ist auch, daß die Diagnosen von den behandelnden ÄrztInnen nach dem ICD-Code (International Classification of Diseases) verschlüsselt werden müssen, jedes Krankheitsbild bekommt eine vierstellige Nummer. Alle diese Angaben gehen an die kassenärztlichen Vereinigungen und werden dort maschinell erfaßt. Die so entstehenden riesigen Sammlungen hochsensibler Daten der Mehrheit der BundesbürgerInnen riefen schon während des Gesetzgebungsverfahrens 1988 den Datenschutz auf den Plan. Ursprünglich wollte Arbeitsminister Blüm neben der maschinenlesbaren Karte die Führung von „versichertenbezogenen Konten“ bei den Kassen durchsetzen. Informationen über Tabletten- oder Alkoholabhängigkeit, Schwangerschaftsabbrüche oder Depressionen der PatientInnen wären bei den Kassen zusammengeflossen, die elektronische Krankenakte drohte das Arztgeheimnis faktisch aufzuheben.

Der Protest gegen den „gläsernen Patienten“ brachte Teilerfolge: so dürfen die kassenärztlichen Vereinigungen den Kassen nur anonymisierte Abrechnungsdaten übermitteln. „Die Kasse ist daher auch nicht in der Lage, anhand der Abrechnungsunterlagen Diagnose- oder Behandlungsprofile der Patienten zu erstellen“, so der Bundesdatenschutzbeauftragte Dr.Einwag. Auf der Karte dürfen keine Behandlungs- oder sonstigen medizinischen Daten gespeichert werden, die Kapazität des Chips ist auf 256 Zeichen beschränkt. Nicht benötigter Speicherplatz soll mit sinnlosen Zeichen überschrieben werden. Während der Einführungsphase wird geprüft werden, „ob diese Vorkehrungen das Persönlichkeitsrecht des Versicherten, insbesondere das Patientengeheimnis, auch in der Praxis gut schützen“. Bei Stichprobenkontrollen wollen die Kassen pro Quartal die Abrechnungen von zwei Prozent der ÄrztInnen detailliert überprüfen. Zu diesem Zweck müssen die kassenärztlichen Vereinigungen dann doch mit den entsprechenden patientenbezogenen Daten herausrücken.

„Alle Erfahrungen im Umgang mit elektronisch erfaßten Daten zeigen, daß die technischen Möglichkeiten auch genutzt werden – egal ob sie zulässig sind oder nicht“ befürchten KritikerInnen vom „Institut für Informationsökologie“ und der „Deutschen Vereinigung für Datenschutz“. Neben dem möglichen Mißbrauch der PatientInnendaten verweisen sie auf die Gefahr eines allein an der Wirtschaftlichkeit orientierten Gesundheitswesens.

Der „Einheitsdiagnose“ nach dem ICD-Schlüssel folgt die Einheitsbehandlung zum Einheitspreis, ÄrztInnen, die im Sinne ihrer PatientInnen teurer behandeln, könnten mit Computerhilfe leicht herausgepickt und zur Rechenschaft gezogen werden. Das Fazit der KritikerInnen in einer gleichnamigen Broschüre: „Die Krankenversichertenkarte gefährdet ihre Gesundheit“. Wem jetzt angesichts der Nebenwirkungen der Chipkarte mulmig wird, sollte auf jeden Fall ein simples Mittel aus dem Hause des Bundesdatenschutzbeauftragten anwenden: „Die Versicherten haben das Recht, jederzeit nicht nur bei ihrem Arzt oder Zahnarzt, sondern auch bei ihrer Krankenkasse ihre Karte zu lesen, sich also davon zu überzeugen, daß auf ihr keine unzulässigen oder falschen Daten gespeichert sind.“ Frank Holzkamp