: Mißbrauch durch den „guten Onkel“
■ Prozeß vor dem Landgericht: Manfred B. hat jahrelang seine Neffen sexuell mißbraucht
Regungslos und apathisch sitzt Manfred B. auf der Anklagebank. Sein bleiches Mondgesicht hat er der Richterbank zugewandt und fixiert mit starrem Blick einen Punkt hoch an der holzgetäfelten Wand dahinter. Bei den Angaben zur Person fällt ihm sein Geburtsdatum nicht ein. Manfred B. steht wegen Kindesmißhandlung vor der Jugendkammer des Bremer Landgerichts. Er verweigert die Aussage.
Umso deutlicher wird Staatsanwalt Christian Zorn bei Verlesung der Anklageschrift. Über Jahre hinweg soll der Angeklagte seine drei Neffen, zur Tatzeit zwischen 5 und 14 Jahren alt, sexuell mißbraucht haben.
„Anfangs bin ich gern hinge
gangen, denn es gab Video
filme und Computerspiele“
Zum Wochenende holte er sich die Kinder in die Wohnung, die er mit seiner Mutter gemeinsam bewohnt. Dort zwang der sie zur Masturbation. Außerdem soll er ihnen Oral- und Analverkehr abverlangt haben. Dafür ließ er sie auf seinem Computer spielen oder länger fernsehen als zuhause, wirft die Anklage ihm vor.
Frank, eines der Opfer, tritt in den Zeugenstand. Er ist jetzt vierzehn und ein lebhafter Junge. Allein auf seine Aussage gründet sich der Prozeß, denn sein Bruder und sein Cousin wollen oder können ihren Onkel nicht belasten. Frank aber will seine Geschichte erzählen. Zuerst zögert er ein wenig, doch als seine Mutter den Gerichtssaal verläßt, schildert er mit fester Stimme, wie sein Onkel ihn mißbraucht habe. „Als ich ihm gesagt habe, er soll das nicht tun, hat er mir eine geklatscht. Wenn ich was erzähle, wollte er meiner Mutter Lügen über mich erzählen.“ Trotzdem allem sei er anfangs ganz gern hingegangen, denn bei Onkel Manfred gab es Videofilme und Computerspiele. An alles kann Frank sich nicht mehr erinnern. Manchmal sagt er: „Das weiß ich nicht mehr, ich habe es vergessen — ich wollte es auch vergessen.“
Dem Gericht reichen die Aussagen des Jungen: Alle Prozeßbeteiligten verzichten auf die Aussagen weiterer Zeugen.
Erst als Frank seinen Onkel nicht mehr habe besuchen wollen, sei die Sache rausgekommen, erzählt die Mutter von Frank. „Er tut mir immer weh,“ hatte der Junge irgendwann als Begründung angegeben. Im Gerichtssaal ist sie aufgeregt und seufzt oft zwischen ihren Antworten. Den Kontakt zu ihrem Bruder hat sie abgebrochen: „Ich habe kein Verhältnis mehr zu ihm und will auch keines mehr haben“, sagt sie verbittert. Der Riß geht quer durch die Familie.
Die Gutachter haben das Wort. Franks Aussage sei völlig glaubwürdig, betont die Psychologin: So viele Details erfinden Kinder nicht, so frei können sie keine Phantasien variieren.
Der zweite Gutachter, Axel Titgemeyer, bescheinigt dem Angeklagten bei einem Intelligenzquotienten von 56 eine „leichte intellektuelle Unterentwicklung“, durchaus aber „nicht geistig behindert“. „Manfred B. kennt sexuelle Tabus und weiß, was erlaubt ist und was nicht. Seine Fähigkeit, sexuellen Impulsen aus dem Weg zu gehen, ist aber stark eingeschränkt.“
Er suchte nicht nur sexuelle
Befriedigung, sondern auch
ein Überlegenheits-und
Machtgefühl
In der Zuwendung zu den Schwächeren habe er nicht nur sexuelle Befriedigung, sondern auch ein Überlegenheits- und Machtgefühl gesucht, das ihm sonst verwehrt gewesen sei. Insgesamt liege eine „erhebliche Einschränkung der Schuldfähigkeit“ vor, urteilte Titgemeyer. Manfred B. sei Gesprächen nicht zugänglich, daher könne er keine günstige Prognose über seine weitere Entwicklung machen.
Die Vorsitzende Richterin Hilka Robrecht führt geschickt und einfühlsam durch das verminte Gelände von Schamgefühlen, Familienbeziehungen und Strafjustiz. Sie mildert die Nervosität der Zeugen und bringt auch aus dem unbeteiligt wirkenden Angeklagten einige Worte über sein Leben heraus: Der Vater Alkoholiker, zuhause immer nur Streit, er selbst in der Sonderschule, danach einfache Arbeiten. „Lesen kann ich ein bißchen, schreiben nicht.“
Die Plädoyers von Staatsanwaltschaft und Verteidigung ähneln sich stark. Auch der Rechtsanwalt hatte die Aussagen des vierzehnjährigen Frank nicht angeweifelt. Manfred B. wird wegen sexuellem Mißbrauchs von Kindern und homosexuellen Handlungen mit Minderjährigen zu 20 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Empörung bei den Eltern der Opfer: „Das ist doch keine Gerechtigkeit. Sollen wir unsere Kinder vielleicht im Haus festbinden?“ Ihr Anwalt hatte für Manfred B. vier Jahre Haft ohne Bewährung gefordert.
Richterin Robrecht wendet sich in der Urteilsbegründung direkt an den Angeklagten, versucht, ihn aus seinem Schneckenhaus zu holen. Langsam und deutlich, wie zu einem Kind, liest sie ihm die Leviten: „Sie müssen jeden Kontakt mit ihren Neffen unterlassen. Was Sie getan haben, das darf nicht sein. Merken Sie sich das: Wir wollen Sie hier vor Gericht nicht wiedersehen.“ Manfred B. nickt.
Bernhard Pötter
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