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Ikone im metertiefen Schnee

„Letzte Bilder vom Schiffbruch“ – Filme osteuropäischer Regisseurinnen  ■ Von Anke Westphal

Kein Schnäppchen, sondern einen seltenen, so bald nicht wieder zu besichtigenden Schatz offeriert seit gestern ein Festival osteuropäischer Regisseurinnen, für das Anja Streiter und Martin Kelker mehr als 40 Filme gesichtet haben; etliche davon blieben jahrelang als unerwünschte „Regalfilme“ unter Verschluß. Die staatlichen Verleihsysteme des Ostens liegen inzwischen brach. Es ist eine Sisyphos-Arbeit, diese Filme im Chaos sich auflösender und neusetzender Strukturen zu finden; dafür floriert angesichts modischer Slawophilie der Handel mit teuren Schwarzkopien, während in den osteuropäischen Kinos selbst amerikanische Filme mittlerweile zu 85 Prozent die Programme dominieren.

„Letzte Bilder vom Schiffbruch“ zeigt ausschließlich Filme von Regisseurinnen: Klassiker der Filmgeschichte des jeweiligen Landes, ausgewählte Filme der siebziger und achtziger Jahre, einige Dokumentarfilme und Filme jüngerer Autorinnen, ohne unter dem Logo „Frauenfilmfestival“ versimpelt werden zu können. Osteuropäische, gerade sowjetische Filmerinnen der mittleren Generation wie Larissa Schepitko oder Kira Muratowa zum Beispiel kamen aus einer klassisch-akademischen Ausbildung und verstanden ihre Ästhetik keinesfalls als feministisch; Feminismus wurde als Luxusgut aus dem Westen betrachtet. Sowjetische Regisseurinnen, fast allesamt Autorenfilmerinnen, standen lange als seismographisch sensible „Ingenieurinnen der Seele“ in der Tradition des russischen Moralismus, der Dostojewskischen Tradition von Großmut, Barmherzigkeit, Wahrheit und Nächstenliebe. Jenseits des Eisernen Vorhangs quälte man sich mit einer ängstlichen Zensur ab, mit Mangelverwaltung, mit Produktionsbedingungen, die aller Beschreibung spotteten – so schmolz der Schepitko bei den Aufnahmen zum preisbeladenen Klassiker „Hitze“, ihrem Diplomfilm von 1963, in der kirgisischen Steppe das Zelluloid in der Kamera. Dazu drohte Berufsverbot, sobald von den Moralkodizes des sozialistischen Kinos offensichtlich abgewichen wurde.

Die von Fundamentalistinnen so gern vermißte „weibliche Sicht“ osteuropäischer Filmerinnen springt zwar nicht ins Auge, kann aber doch spektakulär sein, wie in Larissa Schepitkos schlimmem, grandiosem „Aufstieg“ (1976). Es ist ein Film über den „Großen Vaterländischen Krieg“, ohne sich ins Gleis jener pathetischen Kollektiv- Schlachtengemälde zu begeben, die von Mosfilm in großer Zahl als klischierte geschichtliche Trauerarbeit produziert wurden. Als erster sowjetischer Film thematisierte „Aufstieg“ den verzweifelten Versuch, während des polarkalten Kriegswinters von 1941/42 im belorussischen Hinterland zu überleben – um den Preis von Verrat und Kollaboration. Das Pathos von „Aufstieg“ ist das eines individuellen Leidens, das keine Wahlmöglichkeit mehr hat und dadurch auf das Kreatürliche reduziert wird. Die verhaltene Kamerafahrt über totenstille weiße Landschaften, dunkelschwere Baumrinden und eilig verlassene Erdhütten, erstarrt immer wieder auf den Großaufnahmen grauer, unbeschreiblich müder Passionsgesichter. Wie eine Ikone, durchflutet von Angst, versinkt einmal ein Antlitz, „das leben will“, im metertiefen Schnee. Das hier ist kein Krieg der Armeen, sondern eben einer der einzelnen Kreatur gegen die Angst, den einsamen Tod, der doch schon da ist, sich erfüllend im biblischen Aufstieg zu einem dörflichen Kalvarienberg, auf dem vier Geiseln erhängt werden. Jede von ihnen endet in anderer Verzweiflung; noch nicht einmal dem irren Verräter wird die Würde genommen. Die Wanderung der Seele eines Erhängten in die hellen Augen eines kleinen Jungen, der zum Zuschauen gezwungen wurde, ist als Bild Filmgeschichte.

Schepitkos kathartischer „Aufstieg“ eröffnete ihr internationale Berühmtheit. Es gehört zur ungeschriebenen Geschichte sowjetischer Kultur, daß etliche ihrer Künstlerinnen unter mysteriösen Umständen ums Leben kamen (wie auch Dinara Assanowa). 1979 verunglückte die charismatische, beliebte Schepitko, 41jährig, tödlich während der Dreharbeiten zu einem weiteren „Regalfilm“ („Abschied von Matjora“, den ihr Mann Elem Klimow vollendete), als ein mit Steinen beladener Lastwagen ihr Auto frontal rammte.

Zu den im Festivalprogramm präsenten SU/GUS-Filmen gehört neben denen von Goldowskaja und Proskurina u.a. Irina Poplawskajas wunderschöne Aitmatow- Verfilmung „Sehnsucht nach Djamila“ (1969), das Schicksal Kirgisin, die als einzelne wahrgenommen werden will und deshalb die patriarchalisch-mittelasiatische Großfamilie verläßt. Kira Muratowas assoziativ-symbolischer, noch 1989 in der SU angefeindeter Film „Das Asthenische Syndrom“ ist zu sehen und natürlich Lana Gogoberidse, die am ehesten explizit „den weiblichen Gesichtspunkt gegenüber der Welt bekräftigt“ und in traumatischer Mutter-Tochter- Mutter-Linie filmisch variiert. „Ein Tag länger als die Nacht“ allerdings erzählt die Geschichte Evas, die den Mörder ihres Geliebten heiratet, eine Parabel auf den „unerkannten Mörder“ und das Land Georgien. Georgiens Geschichte ist auch Zentrum von Nana Dschordsadses absurd-komischer, verzwickter „Robinsonade“ (1986): Ein britischer Telegraphist erlebt 1922 den revolutionären Umbruch samt Liebelei – Gegenwart und Vergangenheit laufen ineinander; die Frauengestalten zentrieren das Geschehen heiter, dabei irgendwie archaisch – wie vollkommene Kosmen.

Die jüngere Generation osteuropäischer Filmerinnen zeigt weniger Abwehr gegenüber der gefürchteten „Frauenschublade“. Außer im deutschsprachigen Raum leider wenig bekannten rumänischen, bulgarischen, ungarischen, tschechischen oder polnischen Regisseurinnen sind die Altmeisterinnen Marta Mészáros (zum Beispiel mit „Adoption“, 1975), Agnieska Holland, und die durch ihr anarchisches „Tausendschönchen“ berühmt gewordenen Vera Chytilová (hier u.a. mit „Kalamität“, 1980) vertreten. Am erheiterndsten war das Werk der tschechischen „Radikalfeministin“ Irena Pavláskova „Zeit der Diener“ (1989). Ein unglücklich verliebtes Mauerblümchen im Konfirmandenkleid mutiert hast-du- nicht-gesehen über ein schlicht an den Kumpel gerichtetes „Heirate mich!“ zum sich ehrgeizig langweilenden Monster, das vor ihrem neonlichtumrahmten Spiegel immer eleganter und berechnender wird, je mehr es „verwestet“ in Prag. Das Ausland ist zweiter, wenn auch unsichtbarer Hauptakteur. Zwischen Salbentöpfchen von Dior und 600-Kronen-Pullovern entscheidet sich die schöne Schreckschraube Dana aus Rache dafür, daß sie einst bei der eh ungerechten Verteilung von Liebe die Haltung verlor, fürs Bösesein. In der Ferne leuchtet Paris, wo das so beleidigend Mediokre von Lady Macbeths Alltag bestimmt abgeschafft ist...

Der „Schiffbruch“ des sozialistischen Systems und seiner altmodischen Werte transportiert sich in dieser Satire am deutlichsten über seine rudimentären Symbole: gammelnde Sowjetsterne, Kunstgewerbe-Tischdecken aus Betriebsvergnügenzeiten und Pioniergruppen, die durch fotografierende Japaner ersetzt werden. Das Resümee steht über den Systemen: „Wir allen wollten anders leben, und wie sind wir ausgefallen... Nullen.“ Würde jedoch, wenn mensch sie behält, ist ein anderes Wort für Liebe.

„Letzte Bilder vom Schiffbruch. Ein Festival osteuropäischer Regisseurinnen“. Vom 1. bis 28. April im fsk und im Regenbogenkino.

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