: Plötzlich war die Krähe tot
Halbfinale im DFB-Pokal: Hertha BSC Amateure – Chemnitzer FC 2:1 (2:1)/ Als erste Amateurmannschaft überhaupt erreichen die Berliner das Pokalendspiel ■ Aus Berlin Matti Lieske
Kaum hatte Schiedsrichter Strigel um 22.01 Uhr zum letztenmal in sein Pfeifchen geblasen, brach im Berliner Olympiastadion ein Tumult los, wie ihn eine Mannschaft von Hertha BSC schon lange nicht mehr erlebt hat. Hilflos stand ein kleines Häuflein von Ordnern der geballten Begeisterung gegenüber, die von den Rängen auf jenen Rasen schwappte, der vorher Schauplatz einer der größten Sensationen in der Geschichte des DFB- Pokals war: zum erstenmal hatte ein Amateurteam das Endspiel erreicht, noch dazu die zweite Mannschaft eines Vereins, die Amateure des in den letzten Jahren nicht allzu ruhmreichen Clubs Hertha BSC Berlin.
Kurz zuvor hatten sich die Kicker, zumeist gerade erst der Jugend entwachsen, noch völlig ausgepumpt über den Platz geschleppt, sich mit letzter Kraft den verzweifelt anstürmenden Profis vom Chemnitzer FC entgegengestellt, die Bälle soweit wie möglich weggeschlagen und den 2:1-Vorsprung bis zum Schlußpfiff verteidigt. Dann aber schien die Müdigkeit wie weggeblasen. Weit entfernt davon, sich vor dem Ansturm der Fans in die Kabine zu flüchten, blieben die siegreichen Spieler auf dem Platz, klatschten, sangen, liefen inmitten dichter Menschentrauben eine Ehrenrunde nach der anderen und begannen langsam daran zu glauben, auch im Endspiel gegen Bayer Leverkusen am 12. Juni eine Chance zu haben.
„Deutschland hat sein Traumendspiel“, sagte derweil Chemnitz- Trainer Hans Meyer sarkastisch, „wir haben mit unserer schlechten Leistung das unsere dazu beigetragen. Man wird uns dafür danken.“ Herthas Amateurtrainer Jochem Ziegert schien selbst am meisten überrascht, daß der große Coup tatsächlich gelungen war. Die plötzliche Popularität, Autogrammstunden, das Medieninteresse, die Invasion der Spielervermittler, das mit fast 57.000 Zuschauern wohlgefüllte Stadion, die Live-Übertragung im Fernsehen, all dies hatte den Finanzbeamten vor der Partie mit Sorge erfüllt. Anders als bei den vorhergehenden Pokal-Begegnungen, als die Spieler „von der Arbeit oder von Muttern“ kamen und dann Teams wie den VfB Leipzig, Hannover 96 und den 1. FC Nürnberg bezwangen, hatte er diesmal ein zweitägiges Trainingslager verordnet, um Zeit für eine kleine Gehirnwäsche zu haben: „Da sind ein paar Dinge in den Köpfen, die müssen raus.“
Der zweitägige „Erholungsurlaub“ (Ziegert), den die berufstätigen unter den Spielern nehmen mußten, machte sich bezahlt. Als die Mannschaft mit dem Durchschnittsalter von 20,7 Jahren unter dem tosenden Jubel der 60.000, die mit bengalischen Feuern und Leuchtraketen einen Hauch von AC Mailand ins meist so triste Olympiastadion zauberten, den Platz betrat, waren Psyche und taktisches Konzept in perfekter Harmonie. „Wir können gar nicht defensiv spielen“, hatte Ziegert vorher erklärt, und dementsprechend vorwärtsgewandt legten die Spieler los. „Wir wollten sie überraschen“, meinte der Trainer, was seinen Chemnitzer Kollegen Hans Meyer, der einmal, als der FC noch Karl-Marx-Stadt hieß, fast Juventus Turin aus dem Europacup geworfen hätte, keineswegs überraschte: „Ich habe meinen Spielern gesagt, die wollen uns überraschen.“
Dennoch gingen die Chemnitzer den Berlinern in die Falle, was vorzugsweise an den Katapult- Einwürfen von Andreas Schmidt lag. Auch die konnten Meyer nicht überraschen: „Ich habe meinen Spielern gesagt, da ist einer, der wirft wie ein Handballer.“ Vergebens der Kassandraruf. Es schien, als seien die Berliner bloß auf das Schinden von Einwürfen nahe der Eckfahne aus, und nach drei brandgefährlichen Versuchen brachte in der 5. Minute der vierte große Wurf von Andreas Schmidt das 1:0. Die Abwehr bekam den Ball nicht weg, Oliver Schmidt köpfte ihn zu Carsten Ramelow, und der schoß ihn Torhüter Jens Schmidt aus sechs Metern durch die Beine.
Nach dieser ebenso erfolg- wie schmidtreichen Stafette verlegten sich die Chemnitzer darauf, lieber Ecken als Einwürfe zu verursachen, aber auch das ging ins Auge. Ein raffiniert geschnippelter Eckball von Ayhan Gezen landete auf dem Kopf des Liberos Sven Meyer, und in der 22. Minute hieß es 2:0. „Da war die Krähe eigentlich tot“, befand Hans Meyer. Vor allem für eine kompakte, aber phantasiearme Mannschaft wie den Chemnitzer FC, die sich am liebsten hinten reinstellt und auf Konter lauert. Unbeholfen griff der Zweitligist an und hatte Glück, daß ihm in der 36. Minute ein berechtigter Elfmeter zu Hilfe kam. Heidrich traf zum 2:1. Mehr brachten die Profis nicht zustande, selbst dann nicht, als ihre Gegner der Agonie nahe über den Platz wankten.
Das „absolute Wunder“ (Ziegert) war perfekt, nun muß nur noch das Endspiel gewonnen werden. „Nach dieser Siegesserie hafte ich für nichts mehr“, macht sich Carsten Ramelow, einer der Besten auf dem Platz, gelinde Hoffnungen. Der 12. Juni ist dann aber definitiv Endstation für die Amateure. Im Europacup dürften die Profis von Hertha BSC antreten. Undank ist der Welt Lohn.
Chemnitzer FC: Jens Schmidt - Barsikow - Bittermann, Laudeley - Keller, Veit, Heidrich, Gerber, Mehlhorn - Renn (56. Torunarigha), Boer (81. Zweigler)
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