: Herbert Grönemeyer lebt hier nicht mehr
Das Ruhrgebiet ist auch nicht mehr, was es einmal war. Ein Blues in zwölf Takten ■ Von Wolfgang Welt
Günther Rostek pfeift auf dem letzten Loch, aber die Karten kann er beim Skat noch genial nachhalten. Er verliert nur eine Anstandsrunde. Dieter Breitscheid, der gegen ihn gespielt hat, zeigt dem Wirt, daß der Deckel voll ist. 38 Mark muß er blechen. Gegen den ollen Günther kommt er noch immer nicht an, obwohl er auch kein junger Spund mehr ist.
Ich bin nach langer Zeit mal wieder im „Haus Schulte“, hundert Meter von meiner Wohnung auf der Wilhelmshöhe entfernt, einer ehemaligen Bergmannssiedlung an Bochums Grenze zu Dortmund. Früher war hier der Bär los, so vor zwanzig Jahren, als ich in der Ersten Mannschaft Fußball spielte, beim SuS Wilhelmshöhe, und dies das Vereinslokal war. Meinen Vater, der damals erster Vorsitzender war, habe ich öfter hier als zu Hause angetroffen.
Mittlerweile haben sich die Kriegsteilnehmer weitgehend von der Öffentlichkeit verabschiedet. Ein paar Frührentner stehen am Tresen und schocken. Das haben wir früher auch gemacht und geflippert. Doch da, wo der blinkende und ratternde Apparat stand, ragt jetzt ein Darts-Automat in die Höhe. Ein paar Meter davor ein Strich. Der Wirt hat dafür einen Tisch geopfert. Zum Glück wirft gerade keiner seine Pfeile, und ich kann erhobenen Hauptes zur Musikbox gehen. Da ist nur Schrott drin. Das war schon immer so. Ewig hinkt sie zwei Monate hinter der Hitparade her.
Pedro, der Inhaber der Pinte, ist kein Mexikaner, sondern Grieche. Aus irgendwelchen Gründen, die keiner kennt, hat er bei der letzten Jahreshauptversammlung nicht mehr als Vereinswirt kandidiert. Es bleiben ihm noch die Kleintierzüchter und der „Luftbote“, der Taubenverein. Neben mir trinkt Eberhard Klette sein sechstes Vest Pils. Auch er züchtet die intelligenten Vögel. Ich frage ihn, wieviel Schläge noch auf der Wilhelmshöhe sind. Neun. Es waren schon mal weniger. Aber jetzt sind die Taubenväter alle über fünfzig, und Nachwuchs kommt nicht nach.
Das ist auch das Problem des Gesangvereins „Eintracht“. Neulich wurde dessen Ehrenvorsitzender Alex Brasse beerdigt. (Am 1.9.89 hatte ich ihn im Fernsehen gesehen, weil er den Polenfeldzug von Anfang an mitgemacht hatte.) Seine Sangesbrüder können alleine schon lange nicht mehr auftreten, und wahrscheinlich haben sie sich an Alex' Grab mit einem anderen Chor zusammentun müssen, um ihrem ehemaligen Präsidenten ein Abschiedsständchen zu bringen. „Beim Rudi Gießler“, sagt Eberhard, „haben wir am Grab Tauben mit schwarzen Schleifchen hochgehen lassen.“
Bevor ich weitergehe, überlege ich, ob ich mir nebenan eine Currywurst mit Pommes leisten soll. War das ein Auflauf, als vor dreißig Jahren der „Spikes“ Rotermund in dieser Bude, die zur Kneipe gehört, die ersten Pommes mit Schlamm verkauft hat! So etwas kannten bis dahin ja nur die paar Holland-Fahrer (und wer war schon 1963 motorisiert?).
Das Geschäft ging auch jahrelang gut. Der Gerd Neemann (im nachhinein mit Abstand mein Lieblingswirt) hat seine Frau hierhin abgeschoben, weil er sie nicht in der Gaststube haben wollte. Heute verkauft Pedros Frau vielleicht fünf Currywürstchen am Abend — und ein paar Portionen Gyros. Die anderen rufen eine Pizzeria oder Mac Mao an.
Ich will noch die übrigen drei Kneipen abklabastern, in denen die 5.000 Wilhelmshöher ihren Durst nach Feierabend löschen könnten. Aber nur wenige tun das.
Ich gehe die vielbefahrene Hauptstraße entlang, den Zubringer für Opel vor meiner Haustür. Die Selterbude ist schon monatelang zu. Irgendwie läuft auf der Wilhelmshöhe das Geschäft mit der Trinkhalle nicht mehr. Früher hielten die LKW-Fahrer jeden Tag wegen einer Schachtel Streichhölzer, nur um beim Kauf einen Blick auf den dicken Busen von Hermine Abich werfen zu können. Als die weg war, folgten nur noch Pleiten. Teilweise die Funktion einer Selterbude übernommen hat Bernd Wagner.
Jedenfalls nimmt er auf Lottoscheinen nicht nur die Illusionen der Wilhelmshöher entgegen, sondern verkauft neben Schreibwaren, Zigaretten und Zeitschriften auch Getränke und für die Kinder etwas zu schnuckern. Faber (der ohne Wenn und Aber) hat ihm noch nicht viele Kunden abspenstig gemacht. „Laß den erst einmal den ersten Musterprozeß verlieren.“ Die taz führt er nicht, weil kaum jemand danach verlangt, dafür wird er täglich hundertzwanzig Bild-Zeitungen los. Die Neugier auf Focus hat stark nachgelassen. Das Blatt steht unverkäuflich im Regal.
Zwei Frisier-Salons halten sich auf der Wilhelmshöhe. Ich gehe immer zur Dietlinde, mit der ich konfirmiert worden bin. Wie hier oben zwei Blumengeschäfte überleben können, ist mir schleierhaft. Eine Goldgrube hingegen ist der Fußpflege-Salon von Thérèse, weil es hier so viele alte Frauen mit Hühneraugen gibt. Der Bäcker Franz Mersmöller kann sich eben über Wasser halten. Seitdem der Plus in der Somborner Straße zu ist, hat er sein Angebot ums Nötigste erweitert und betreibt jetzt eine Art Tante-Emma-Laden. Nebenan die Volksbank wurde schon vor ein paar Jahren wie die Post neulich dichtgemacht, angeblich wegen der ungünstigen (eigentlich günstigen) Verkehrslage in B1- Nähe, die einige Ganoven zu Überfällen verleitet haben soll. Wahrscheinlich aber haben die Wilhelmshöher zu wenig Gewinn gebracht. Hier gibt es keine Großanleger. Danach hat es in dem Ladenlokal ein Arzt mit einem Sonnenstudio versucht und sich eine Blase gelaufen. Jetzt ist nach dessen Pleite schon der zweite Video- Verleiher drin. Ich glaube nicht, daß der sich eine goldene Nase verdient, denn die Wilhelmshöhe ist fast voll verkabelt.
Am Tresen von „Goldberg“ sitzen ein paar Männeken. Es sieht nicht mehr aus wie einst, wie ein Wartesaal. Gerade werden die Sparkästen geleert. Ich verkneife mir die Frage an die Vertrauensleute, ob noch eifrig gespart wird. Sonst läuft hier wenig ab außer einem bißchen Politisieren über Krause und Herbert Wehner.
Beim Bruno („Haus König“) steht auch eine Jukebox. Sie ist aber ausgestellt, und es tönt etwas aus dem CD-Player hinter dem Tresen. Jetzt ist Bruno, ein gemütlich wirkender Dicker, der neue Vereinswirt des SuS. Nach dem Training haben sich drei Spieler eingefunden und diskutieren mit Karl-Heinz Sallner, auch ein Taubenvater, ob der VFL Bochum tatsächlich „unabsteigbar“ ist, wie es in dem Lied heißt. Unser Club steht mit an der Spitze in der KreisligaA. Allerdings ist er auf Neuzugänge aus anderen Vereinen angewiesen. Mangels Masse mußte die Jugendabteilung abgemeldet werden. Die Wilhelmshöhe ist überaltert, und die jüngeren Eltern schicken ihre paar Kinder lieber zum Tennis.
Im „Sputnik“ (eigentlich „Bürgerkrug“) bin ich neben „Curd Jür
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gens“ der einzige Gast. (Fragt mich nicht, wie der wirklich heißt!) Er schimpft auf die Asylanten. Tatsächlich wohnen etliche in einem alten Bullenkloster von Opel. Das gab anfangs Theater, als die einzogen, vornehmlich mit den Besitzern von Eigenheimen in der Nachbarschaft. Da konnte auch der Bundespräsident nicht helfen, der hier, tatsächlich hier auf der Wilhelmshöhe nach den Vorfällen von Hoyerswerda leibhaftig erschienen ist, um Schönwetter zu machen. Inzwischen scheint sich die Lage beruhigt zu haben.
Ich drücke „Jive Buddy Jive“, während „Curd Jürgens“, der, bevor RTL über den Sender ging, immer ein paar Porno-Hefte in der Aktentasche bei sich führte, etwas wehmütig einen Bericht der Bild- Zeitung zitierte, wonach in Budapest Zwölfjährige für zwanzig Mark die Stunde zu haben sind. Auch im „Sputnik“ ist der Flipper durch ein Darts-Board ersetzt worden.
Wenn ich noch Bock hätte, könnte ich meinen Freund Alfred Schmalz anrufen, und wir würden in die Stadt fahren, so wie wir's vor zehn Jahren öfter gemacht haben. Aber ich weiß nicht, was seine neue, wesentlich jüngere Lebensgefährtin dazu sagen wird. Ab und zu singt er noch, der Pavarotti von der Wilhelmshöhe, für hundert Mark pro Lied, bei Hochzeiten und anderen Festlichkeiten. Meine Mutter erzählt heute noch gerne, daß Alfred es war und nicht der Pastor, der sie mit seinem „Ave Maria“ zum Weinen gebracht hat, als 1969 mein Bruder geheiratet hat.
Im „Bermuda-Dreieck“, der Bochumer Suffmeile, ist sicher wieder die Hölle los, weil die Bauernknüppel aus dem nördlichen Bergischen und südlichen Münsterland eingefallen sind. Einheimische gehen hier nicht vor zwei in die Kneipe. Ich streiche den Abstecher in die City und gehe lieber die zehn Minuten zu Fuß in den „Bahnhof Langendreer“. Die Leute, die das Ding leiten, stöhnen wie die meisten freien Kulturveranstalter über die Sparwut der SPD-Bürokratie. Trotzdem läuft hier ein ansehnliches Programm ab, von Richard Rogler und drei Tage Helge Schneider bis F.M. Einheit und Jack Bruce. Das angeschlossene Kino wird jedes Jahr wegen seiner Verdienste vom Bundesinnenminister ausgezeichnet. Nur das kurzlebige „Dschungelkino“ im legendären „RubPub“ an der Uni hatte Ende der siebziger Jahre ein ähnlich anspruchsvolles Programm. Hier im Bahnhof ist überhaupt kein automatisches Spielgerät vorhanden.
Ich genehmige mir zwei Bier zu einem zivilen Preis und nehme eine S-Bahn zum „Zwischenfall“, wo für zwölf Mark Eintritt eine Hardcore-Band aus dem Nirvana- Staat Seattle zu sehen ist. Vielleicht treffe ich meinen 23jährigen Neffen Marcus, der selber mal in einer harten Combo Schlagzeug gespielt hat. Jetzt zieht er solo sein Techno-Ding durch [welche sprache! d. s-in]. Er ist aber nicht da und wird wohl im „Planet“ stecken, der von den Spex-Lesern bei einer Umfrage zur besten Disco im Westen gewählt worden ist und wo auch schon mal Konzerte mit avantgardistischen Bands, ähnlich wie im „Macao“ oder im „Cave“, ablaufen. Wahrscheinlich bin ich für derlei Krach zu alt. Aber für junge Leute ist hier in Bochum genug los, weitaus mehr als in meiner Jugend [kommt nur darauf an, was man so als „ist los“ bezeichnet, gell? d. s-in].
Ich werde lieber wieder öfter in den Kneipen der Wilhelmshöhe auftauchen und samstags bei den alten Herren spielen. Und wenn dann Alfred Schmalz unter der Dusche auf italienisch „O Sole Mio“ schmettert, weiß ich, wo ich hingehöre.
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