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Tägliche Trostlosigkeit in der Jobberhölle

■ Moderne Tagelöhner vermittelt das Arbeitsamt / Morgens um sechs geht es zu wie im Schlußverkauf: Wer am schnellsten ist, "gewinnt" den Job / Kein Risiko für die Firmen: Sie ordern Arbeiter...

vermittelt das Arbeitsamt / Morgens um sechs geht es zu wie im Schlußverkauf: Wer am schnellsten ist, »gewinnt« den Job / Kein Risiko für die Firmen: Sie ordern Arbeiter nach Bedarf / Für die Jobber gibt es kaum Chancen auf eine Rückkehr ins normale Berufsleben

An einem beliebigen Werktag. Morgens gegen sechs Uhr vor dem Hamburger Arbeitsamt an der Kurt-Schumacher-Allee, Nähe Hauptbahnhof. Von den verschlafenen Passanten kaum wahrgenommen, schlängelt sich eine Reihe Taschen um die Ecke, vorbei am Schaufenster eines Autogeschäfts, bis fast auf den Gehsteig. Die Jutebeutel, Rucksäcke, Einkaufsnetze und Aktenkoffer weisen den Weg in einen kleinen Innenhof des Behördenhochhauses. Dort stehen Männer zusammen, reden und trinken Bier. Andere sitzen auf großen Blumenkübeln, schweigen und warten. Wer jetzt noch dazukommt, legt seine Tasche ans Ende der Reihe. Pünktlich um sechs Uhr wird die Tür aufgeschlossen. Die Männer nehmen ihr Gepäck, steigen hintereinander durch das enge Treppenhaus in den zweiten Stock. Oben ein weißes Schild: Tagesjobs. Im Aufenthaltsraum für Arbeitssuchende tragen sie sich in die Anwesenheitsliste ein. Jeder kritzelt seinen Namen mit einem stumpfen Bleistift so gut es geht auf den Zettel hinter die laufende Nummer. An diesem Morgen sind es 57 Männer, die für einen Stundenlohn zwischen zehn und fünfzehn Mark malochen wollen.

Michael Speck hat seinen Kumpel mitgebracht. Er erklärt ihm: „Wenn du gewaschen und rasiert bist, bekommst du schon irgend etwas.“

Inzwischen ist die Fenstergalerie des Aufenthaltsraumes schon beschlagen. Zigarettenqualm kriecht an den Feuchtigkeitsperlen empor und bildet dicke Wolken an der Decke. Der braune Filzteppich hat unzählige Brandflecken. „Alkoholkonsum in den Diensträumen verboten“, steht an der Wand — von niemandem beachtet.

Alle träumen vom gutbezahlten Superjob

Jetzt geht es eine Stunde lang zu wie beim Schlußverkauf: Die Firmen bestellen „ihre“ Arbeiter, und immer weniger bleiben im Warteraum sitzen. Ein Vermittler ruft: „Drei Männer für die Bavaria Brauerei.“ Sofort springen sieben von den billigen Plastikstühlen auf. Wie in der Schule heben sie die Hand, schreien „Hier“ oder „Ich“. Kurze Zeit später kommen vier enttäuscht wieder heraus. „Immer dieselben“, murren sie, und: „Ich habe doch gar nicht zuviel getrunken.“ Dann sammeln sie Geld für die nächste Runde Bier.

Wachträume: „Heute kriegen wir den Superjob!“ Der Superjob — das bedeutet, für die eigene Arbeit gut bezahlt zu werden. „In einer Gesellschaft, in der sich der Wert jeder Tätigkeit nach Geld bemißt, haben schlecht entlohnte

1Hilfsarbeiter stündlich ihre scheinbare Wertlosigkeit vor Augen“, erklärt ein Vermittler.

Acht Uhr. In den Büros des Behördenhochhauses beginnen die Angestellten mit ihrer Arbeit. Die Tagesjob-Vermittlung kommt zur Ruhe. Wer jetzt noch auf den Stühlen sitzt, wird heute kaum noch Arbeit bekommen. „Die meisten Firmen fangen spätestens um acht an, brauchen dann auch die Leute“, sagt ein Vermittler.

Warten. Ein Mann rasiert sich auf der Toilette. „Der ist obdachlos“, erzählt jemand, „hat schon vor dem Eingang geschlafen, um der erste auf der Liste zu sein.“ Das ist alles, was man voneinander weiß. Die Stimmung wird schlechter, einige müssen unbedingt Geld verdienen. Das tatenlose Herumsitzen zehrt an ihren Nerven. Und der Alkohol beginnt Wirkung zu zeigen. Schon die Bitte nach der fremden Zeitung kann zum Streit führen.

Wer im zweiten Stock ankommt, hat bestanden

Seit 1978 besteht die Tagesjob-Vermittlung in Hamburg. Hervorgegangen ist sie aus dem vor genau 30 Jahren gegründeten Sekretärinnen- Schnelldienst, der die große Nachfrage an Schreibkräften abzudecken versuchte. „Drei Mitarbeiter haben alle Hände voll zu tun, um unseren festen Stamm von ungefähr 200 Arbeitssuchenden zu vermitteln“, meint Wolfgang Jantz, Leiter der Zeitarbeit-Vermittlung. Hinzu kämen jede Menge Zufalls- und Eintagsarbeiter. Ein Viertel der Männer sei obdachlos. „Arbeit haben wir immer. Jeder Job ist eine Möglichkeit, wieder in das normale Be-

1rufsleben hineinzukommen.“ Besondere Qualifikationen seien nicht erforderlich. „Wer die zwei Stockwerke hier heraufkommt, hat die Kenntnisprüfung schon bestanden.“

Das normale Leben. Für die meisten der Männer heißt das: ein Leben von der Hand in den Mund.

1„Wie gewonnen, so zerronnen“, beschreibt Joachim Günzke seine Situation. Oder: „Mal habe ich genug Geld für den Tag, mal muß ich hungern.“ Der 34jährige saß sechs Jahre im Gefängnis. Mit 19 hat er als Grenzsoldat versucht, aus der damaligen DDR zu fliehen. Die Anklage lautete auf Republik- und Fahnenflucht. Erst 1983 wurde er in den Westen abgeschoben. „Nur mit einem blauen Trainingsanzug bekleidet.“ Immerhin fand er Arbeit als Lackierer, verdiente 20 Mark in der Stunde. „Das war einmal“, sagt er heute. „Jetzt verderben die Ostler die Preise. Mehr als 14 Mark sind nicht mehr drin.“ An diesem Tag hat er kein Glück. Sein letztes Bier nimmt er mit, als er auf die Straße geht. Dort sieht er sich unschlüssig um.

Der 54jährige gelernte Fliesenleger Otto Lukovic sitzt bei der Jobvermittlung die letzten Jahre bis zur Rente ab. 20 Jahre lang hat er im Hafen gearbeitet, für ganz gutes Geld schwere Lasten gewuchtet. Jetzt ist sein Rücken kaputt, Arbeitslosengeld bekommt er längst nicht mehr. Jeden Morgen erscheint er pünktlich mit seiner Aktentasche. Wenn er nicht vermittelt wird, bleibt er in der Stadt. Nach Hause geht er erst am späten Nachmittag. Nur wenige seiner Bekannten wissen, daß er arbeitslos ist. Er ist scheinbar zufrieden: „Ich habe meine Familie und den Garten.“ Zehn Tage Arbeit pro Monat würden ihm reichen. „Das klappt meistens.“ Obwohl er bei zwei Firmen Hausverbot hat, „weil ich manchmal zuviel trinke“.

Der Abstieg: Scheidung, Schulden und obdachlos

Unerwartet öffnet sich noch einmal die Bürotür. „Zwei Männer für die Firma Arnold Koch.“ Niemand steht auf. Wer es doch versucht, wird von den anderen zurückgehalten. Die Firma zahlt zu schlecht, so der Vorwurf. Den Arbeitssuchenden ist klar: „Wenn wir zusammenhalten, können wir mehr verdienen.“ Doch nur selten sind sie sich einig, zu verschieden sind ihre Interessen. Und „viele brauchen jeden Pfennig, da bleibt ihnen gar keine Wahl“, wissen die Vermittler.

Eine typische Karriere ist nach Einschätzung der Vermittler: Ehescheidung, Wohnungsverlust, Schulden. „Für einige lohnt es sich

1wegen der Schulden gar nicht mehr, regelmäßig zu arbeiten. Der Lohn würde sofort gepfändet.“

Firmen, die sich zu den Arbeitsbedingungen der von ihnen angeheuerten Tagelöhner äußern wollen, lassen sich kaum finden. Der

Nach neun Uhr ist für diesen Tag alles gelaufen

Geschäftsführer eines großen Baumarktes erklärt sich nur unter der Bedingung dazu bereit, daß weder er noch sein Arbeitgeber namentlich genannt werden. „Wir haben bisher überwiegend gute Erfahrungen mit den Leuten gemacht.“ Die Arbeitssuchenden beschweren sich, daß sie schlechter als die Festangestellten behandelt würden. „Jede Zigarettenpause muß abgestempelt werden, hat Lohnverlust zur Folge“, sagen sie. Dazu der Geschäftsführer: „Die Männer werden nach ihrer Tätigkeit angemessen bezahlt. Dafür erwarten wir Lei-

1stung.“ Dann fügt er hinzu: „Wer für die Lagerarbeiten die vollen zwölf Mark fünfzig kassieren will, muß durcharbeiten.“

Neun Uhr. Die meisten Männer sind gegangen. Es gibt für heute fast keine Chance auf einen Job mehr. Einige harren dennoch aus. Nicht, weil sie noch hoffen, sondern weil sie reden und nicht allein sein wollen.

„Dieser Warteraum wird um zehn Uhr geschlossen“, steht auf einem Plakat. Während im Nebenblock Brautpaare zum Standesamt gehen, verlassen die letzten Männer ihren Platz, auf dem sie vier Stunden gewartet haben. Hinter ihnen wird die Tür abgeschlossen. Zuvor hat ein älterer Mann noch die Bierdosen weggeräumt. „Wir verlangen das nicht“, sagt der Vermittler, „aber er war Kellner und ist das wohl so gewohnt.“ Torsten Schubert

Die Namen aller Arbeitssuchenden sind geändert.

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