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Jenseits des Sozialpaktes

■ Zum Vergleich: Amerikanische Arbeitskämpfe und neue Unternehmensstrategien

Wie können Gewerkschaften Angriffe auf einmal erreichte soziale Standards erfolgreich abwehren? Wie lassen sich Arbeitsplätze in Krisenzeiten verteidigen? Welche Risiken bergen neue Unternehmensstrategien wie lean production? Weil die Antworten darauf so überaus rar gesät sind, kommt ein Buch gerade recht, das einen Blick über den großen Teich erlaubt. Gewerkschaftliche Kämpfe „Jenseits des Sozialpakts“, so der Buchtitel, machen neugierig auf Aktionsformen und Gewerkschaftsstrategien, die die breitgetretenen Pfade bundesdeutscher Gewerkschaftspolitik verlassen. Soviel vorweg: Von den amerikanischen Arbeitskämpfen zu lernen heißt nicht, siegen lernen, wohl aber Mut zu schöpfen in die Fähigkeit von ArbeiterInnen, sich trotz widrigster politischer Umstände gemeinsam zu wehren.

Welche Grenzen die kapitalistische Gesellschaftsordnung in den USA dabei setzt, wird deutlich am Beispiel des Kampfes um die US- Fluggesellschaft Eastern Air Lines (EAL), der in einem spannend zu lesenden Interview mit einem Beteiligten nachgezeichnet wird. Fast zwei Jahre lang währte der von großer Risikobereitschaft getragene Streik der EAL-Beschäftigten, der aber allem Einsatz zum Trotz schließlich doch mit der völligen Demontage des Unternehmens und der Vernichtung sämtlicher Arbeitsplätze – allein 11.000 beim Bodenpersonal – endete.

Da waren die Bergarbeiter, die 1989 fast ein Jahr lang mit Unterstützung ihrer reformorientierten und konfliktbereiten Gewerkschaftsführung das Bergbauunternehmen Pittston Coal bestreikten und zeitweise illegal besetzt hielten, schon erfolgreicher. Der Versuch des Unternehmens, sich einem branchenweiten Lohnabschluß zu verweigern und aus dem Krankenversicherungsfonds auszusteigen, scheiterte aufgrund des Streiks.

In den Beiträgen der amerikanischen Autoren finden sich zwar eine Menge von Hinweisen, die andeuten, warum die einen ihr Ziel erreichten und die anderen scheiterten, aber verbindliche Schlüsse läßt das dargelegte Material kaum zu. Um so mehr überrascht die Gewißheit der beiden Herausgeber des Buches, Boy Lüthje und Christoph Scherrer, aus diesen Erfahrungen könne gelernt werden, daß die in den Streiks angewandten neuen Formen der betrieblichen und gesellschaftlichen Mobilisierung „die einzige greifbare Alternative zum perspektivlosen Hinnehmen unternehmerischer Konzessionsforderungen bleiben“. Gerade angesichts der Auseinandersetzung um die Sanierung der Lufthansa komme den Erfahrungen aus der US-Luftfahrtbranche besondere Aktualität zu.

Die spannende Frage, ob sie selbst den Lohnverzicht der Lufthansa-Beschäftigten unter dem Stichwort „perspektivloses Hinnehmen“ subsumieren, beantworten die Herausgeber leider nicht. Hätten die Angestellten der Lufthansa mit größerer Konfliktbereitschaft vielleicht mehr erreichen können? Oder die deutschen Bergleute? Vertraglich abgesicherte Subventionen im Tausch gegen die Zustimmung zum sozial abgefederten Kapazitäts- und Arbeitsplatzabbau, so lautet das sozialpartnerschaftliche Credo der IGBE-Führung nun schon seit Jahrzehnten.

Hätte ein radikalerer Kurs den Mitgliedern möglicherweise bessere Ergebnisse beschert? Mit Blick auf die britische Bergarbeitergewerkschaft läßt sich das gewiß bezweifeln. Das räumen auch die beiden Herausgeber ein. Allerdings verschwenden sie keinerlei Gedanken darauf, daß die bessere Situation der deutschen Kumpel sich vielleicht gerade aus dem sozialpartnerschaftlichen Politikansatz erklären könnte. Nein, die Niederlage der britischen Bergleute gilt den Herausgebern nur als Beleg dafür, „daß auch noch so militant geführte gewerkschaftliche Kämpfe den Angriffen der Unternehmerseite wenig entgegensetzen können, wenn nicht eine grundlegende Veränderung der sozialen und politischen Herrschaftsverhältnisse in einer kapitalistischen Gesellschaft gelingt“. Nun, aus dieser Formulierung spricht ein gewisser Hang zur Rechthaberei, der sich leider nicht nur an dieser Stelle des ansonsten sehr lesenswerten Bandes findet.

Nein, das Versäumnis der deutschen Gewerkschaften besteht nicht darin, sich dem Strukturwandel nicht energisch genug widersetzt, sondern viel eher darin, ihre Macht kaum zur Gestaltung des Wandels benutzt zu haben. Genau darauf kommt es aber heute an.

Welche Chancen und Risiken dabei die von Japan über die USA nach Europa dringenden neuen Unternehmensstrategien – von der schlanken Produktion bis hin zur Gruppenarbeit – für die Beschäftigten im Automobilsektor mit sich bringen, wird in „Jenseits des Sozialpakts“ anregend kontrovers diskutiert. Den deutschen Betriebsräten kann man die Lektüre nur empfehlen. Wer die Erfahrungen der amerikanischen Autobauer auf diese Weise verarbeitet, weiß genauer, wo die Pferdefüße der Gruppenarbeit liegen. Walter Jakobs

Boy Lüthje, Christoph Scherrer (Hrsg.): „Jenseits des Sozialpakts“. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 1993, 29,80DM

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