Subjekt, geckenhaft gekleidet

Zu den Notizbüchern von Daniil Charms  ■ Von Doris Liebermann

„Die Kunst ist ein Schrank“, lautet der Titel des neuen, von Peter Urban sorgfältig edierten und kongenial aus dem Russischen übersetzten Charms-Bandes in der Friedenauer Presse Berlin. Der Titel greift eine Parole auf, mit der von 1928 bis 1931, bis zu ihrer Zwangsauflösung und zur Verhaftung mehrerer Mitglieder, die Leningrader Gruppe OBERIU, die letzte avantgardistische Gruppierung der Sowjetunion, auftrat. Zum engeren Kreis der Gruppe gehörten neben Daniil Charms (eigentlich Juvačev, 1905–1942) die Lyriker Aleksandr Vvedenskij, Konstantin Vaginov, Igor Bachterev, Nikolaj Zabolockij und der Prosaautor Boris Levin. Das russische Kürzel OBERIU, das der Gruppe den Namen gab, stand für „Vereinigung der Realen Kunst“, wobei der Schlußvokal „u“ die vielen „Ismen“ parodierte, die vielen Strömungen in der Kunst, die sich in den 20er Jahren heftige Richtungskämpfe lieferten.

Im Januar 1928 veröffentlichten die Oberiuten ihr Manifest, in dem sie sich zu einer revolutionären, experimentellen Kunst bekannten und sich gegen die von der Kommunistischen Partei erhobene Forderung nach einer „allgemeinverständlichen Kunst“ wandten. Diese müsse, so die Oberiuten, im „Dickicht der schrecklichen Irrtümer“ enden. Die Oberiuten verfochten einen eigenen Realismusbegriff, der sich weder an die Alltagslogik noch an den traditionellen Zeitbegriff hielt, sondern forderte, der Realität nach den immanenten Gesetzmäßigkeiten der Kunst zu Leibe zu rücken. Durch „Konfrontation der Wortsinne“, durch das Heraussprengen einzelner Wörter aus sinnentleerten Bedeutungszusammenhängen und durch neue, „absurde“ Kombinationen wollten sie auf die ursprüngliche Wortbedeutung aufmerksam machen.

Die künstlerische Parole „Die Kunst ist ein Schrank“ ging auf einen Essay mit dem Titel „Gegenstände und Figuren, entdeckt von Daniil Charms“ zurück, den jetzt ein Band im Verlag der Friedenauer Presse neben einer Fülle von Materialien vorstellt, die Charms im Kontext der OBERIU-Bewegung verfaßte. „Die Bedeutung eines Gegenstandes ist vielfältig“, notierte Charms 1927. „Die fünfte Bedeutung definiert sich durch das Faktum der Existenz des Gegenstandes selbst. Sie steht jenseits des Verhältnisses zwischen Gegenstand und Mensch und dient nur dem Gegenstand selbst. Die fünfte Bedeutung ist der freie Wille des Gegenstandes... Die fünfte Bedeutung des Schrankes ist Schrank.“ Neben avantgardistischen Aufsätzen faßt der neue Band Materialien verschiedener Genres aus den Jahren 1924 bis 1940 zu einer künstlerischen Biographie zusammen, Tagebuchaufzeichnungen, philosophische Skizzen, Traktate über Zahlen, Kürzel in Geheimschrift, er bezieht auch Prosatexte, lyrische Fragmente und Gedichtvarianten mit ein. Das Buch legt neue Facetten im Schaffen des überaus vielseitigen und produktiven Künstlers Charms offen, gleichzeitig zieht es die grundlegende und bestürzende Wandlung nach, die sein Werk zwischen 1924 und 1940 erfuhr, als spielerische Ironie und hintergründiger Humor einer abgrundtiefen Verzweiflung wichen.

Peter Urban, der Herausgeber und Übersetzer, hat für dieses Buch eine Chronik mit den wichtigsten Daten zu Charms' Leben und Werk zusammengestellt, die auch auf die politischen Ereignisse der Zeit Bezug nimmt. Sie ist die umfassendste, die es überhaupt zu Charms auf dem deutschen Buchmarkt gibt. Indem Peter Urban Zeilen aus dem Haupttext aufgreift, Erinnerungen von Charms' Weggefährten einflicht und die Texte des Künstlers auch zeithistorisch einordnet, fördert er manchen verschütteten Zusammenhang zutage. Charms, so wird deutlich, war keineswegs nur der verspielte Nonsens-Dichter, als der er häufig wegen seiner eigenwilligen Lebensgewohnheiten, des manchmal verwirrenden, fliegenden Wechsels seiner Pseudonyme (außer Charms auch Scharms, Tschardam, Dandan, Garmonius u. a.) und der Ambivalenz von Spiel und Ernst in seinen Texten mißverstanden wurde. Charms, so belegt die Chronik, reagierte direkt und indirekt auf den stalinistischen Terror, der seinen engeren Freundeskreis und letztlich ihn selbst erfaßte.

Die ersten Eintragungen sind noch ganz kindlich, unverfänglich: „Lies am Tisch sitzend und habe Bleistift und Papier zur Hand. Schreibe dir Gedanken aus dem Buch auf, aber auch die eigenen, die dir beim Lesen oder aus einem anderen Grund durch den Kopf gehen. (Papa)“, notiert 1924 der 19jährige Daniil Charms, um fortan, auch unter den bedrohlichsten Lebensumständen, den Ratschlag seines Vaters, eines ehemaligen Sozialrevolutionärs, zu befolgen. Charms stand damals, 1924, noch ganz am Anfang seiner schriftstellerischen Laufbahn, während der er außer Erzählungen und Büchern für Kinder nur zwei Gedichte „für Erwachsene“ veröffentlichen sollte. Charms schuf sich ein poetisches Universum aus Gedichten, Kurz- und Kürzestgeschichten, dramatischen Poemen und Anekdoten – im vollen Bewußtsein, seine Manuskripte wahrscheinlich niemals publiziert zu sehen. Er verfaßte seine Texte in den 20er und 30er Jahren, als Stalin begann, ein repressives Herrschaftssystem aufzubauen, das in alle Bereiche des sowjetischen Lebens eindrang und auch die Kunst einem restriktiven Dogma, dem des „sozialistischen Realismus“ unterwarf. Mit vielen seiner Texte führte Charms diese starre, staatlich verordnete Kunstdoktrin ad absurdum. Während ganze Schriftstellerkollektive in stereotyp abgefaßten Romanen eine schöngefärbte kommunistische Zukunft halluzinierten, legte Charms in parabelhaft-grausamen Szenen die Brutalität der Epoche bloß, hielt er unsinnig-triviale Momente fest, die in lakonische Relative mündeten, fixierte er subversive Gedanken, die dem Zeitgeist zuwiderliefen: „SOS. SOS. SOS. Ich kenne kein schändlicheres Publikum als den Schriftstellerverband. Diese Leute kann ich wirklich nicht ertragen.“

Nach der Zwangsauflösung der Gruppe OBERIU, seiner ersten Verhaftung und vorzeitigen Rückkehr aus der Verbannung 1932 fristete Charms sein Leben notdürftig mit Übersetzungen, auch konnte er wieder Kinderbücher publizieren, in den letzten zehn Jahren vor seinem Tode allerdings nur noch zwei schmale Bändchen: „25. März 1938. Unsere Lage hat sich weiter verschlechtert. Ich weiß nicht, was wir heute essen werden. Und was wir weiter essen werden, weiß ich ganz und gar nicht. Wir hungern.“ Zum Hunger gesellte sich die permanente Angst vor einer erneuten Verhaftung. Verhaftet, erschossen oder verbannt wurden in den 30er Jahren, als der stalinistische Terror wütete, zahlreiche Freunde und Bekannte aus Charms' engerer Umgebung, darunter auch seine erste Frau Esther mit ihrer gesamten Familie. Esther kam 1938 in einem Lager ums Leben. Verhaftet und erschossen wurde Charms' Freund, der Lyriker Nikolaj Olejnikov, und Nikolaj Baskakov, der Direktor des Leningrader „Hauses der Presse“, der die OBERIU-Gruppe gefördert hatte. 1937 wurde der gesamte Kinderbuchsektor unter der Redaktion des mutigen Samuil Maršak, der außer Charms auch anderen ins Abseits gedrängten Avantgardisten Publikationsmöglichkeiten eröffnet hatte, vom NKWD zerschlagen.

Charms selbst fiel im August 1941, etwa zwei Wochen vor Beginn der Blockade Leningrads, einer präventiven sowjetischen Verhaftungswelle zum Opfer, die ebenso rigoros wie wahllos vermeintliche Kollaborateure und „verdächtige Elemente“ hinter Schloß und Riegel sperrte, als die deutschen Truppen die Stadt einzukesseln begannen. Obwohl Freunde seine patriotische Haltung bezeugten, wurde auch Charms der „Verbreitung defaitistischer Propaganda“ nach Artikel 58/10 des sowjetischen Strafgesetzbuches verdächtigt. Diese Anklage wurde in der Haft fallengelassen, Charms statt dessen einer gerichtsmedizinischen Untersuchung auf seinen Geisteszustand hin unterzogen: Er wurde zur Zwangsheilung in die Gefängnispsychiatrie eingewiesen. Wenige Monate später, am 2. Februar 1942, starb er, gerade 37 Jahre alt. Wahrscheinlich verhungerte er während der Blockade Leningrads, isoliert und vergessen in der Gefängniszelle, wie später der Dichter Gennadij Ajgi vermutete:

„Er wurde unter dem Verdacht der Spionage verhaftet. Wollen Sie wissen, warum? Sehr einfach: ein verdächtiges Element, launenhaft gekleidet, und dann auch noch auf europäische Art. Obendrein wurde seine jüdische Herkunft festgestellt. Sind das etwa nicht genug Gründe, um ihn im Leningrader Gefängnis zu ,verwahren‘? All dies ereignete sich zu Beginn der Blockade. Und später, im allgemeinen Durcheinander, vergaß man Charms, und er verhungerte in seiner Zelle. Solches Schicksal ereilte gerade ihn – den Meister grausamer Paradoxa.“

Daniil Charms: „Die Kunst ist ein Schrank. Aus den Notizbüchern 1924–1940.“ Aus dem Russischen übersetzt und herausgegeben von Peter Urban. Friedenauer Presse 1992, 400 S., 44 DM