: Das Breitcordgefühl
Fotografie als Selbstverwirklichung: Linda McCartney und ihr Poesiealbum der sechziger Jahre ■ Von Thomas Groß
Von einem Schirmer/Mosel- Bildband erwarte ich in der Regel nicht viel: ein paar wohlabgezogene Fotos zu Themen wie Mode, Autos, „Paris“, Zwanziger-Jahre- Bohème – mehr eine Angelegenheit für den Bücherschrank als für den Verstand. Von Linda McCartney, der Frau des bekannten Ex-Beatle, habe ich bislang noch weniger erwartet, nämlich nichts.
Um so schöner, wenn das Leben noch Überraschungen birgt und Vorurteile Lügen gestraft werden. Es muß an der teeniehaften Schlichtheit liegen, mit der das Material ausgebreitet wird. Und natürlich am Thema: „Rückblickend fällt mir auf, daß Bilder und Musik schon früh eine wesentliche Rolle in meinem Leben gespielt haben... Als ich ein frischgebackener Teenager war, hatte Alan Freed gerade den Begriff ,Rock'n'Roll‘ geprägt, um die Art von Rhythm'n'Blues zu klassifizieren, die er in seinen Radiosendungen bei WINS auf den Plattenteller legte. Diese Musik, die fortan jeden Abend im Radio lief, bedeutete mir so viel, daß sie mein Leben veränderte...“
Klar, die Geschichte einer Initiation. Damals hieß Linda McCartney noch Linda Eastman, eine Tochter aus gutem Hause (allerdings keineswegs die Kodak-Erbin, die später fälschlicherweise aus ihr gemacht wurde) mit vagem Interesse für all das, was Young Americans der eher wählerischen Sorte an der Ostküste im Angebot vorfanden: italienische und französische Schwarzweißfilme, Mittagspausenbesuche im Museum of Modern Art, Partygespräche über „Picässou“ und andere Kunsthelden; überhaupt viel europäische Avantgarde, aber auch Foto-Arbeiten von Dorothea Lange und Walker Evans, die während der Großen Depression Aufnahmen von Wanderarbeitern gemacht hatten.
All diese Dinge habe sie geliebt, versichert Linda McCartney, und doch ist schon den kärglichen Textpassagen, mit denen sie ihr Foto- Buch über die sechziger Jahre ergänzt hat, anzumerken, wie sehr diese Form der Begeisterung ein Nachleben war. Eine junge WASP versucht, die Spuren vergangener Erdbeben für sich zu entdecken, erwischt aber nur noch die jüngste Ausgabe des Kultivierten.
Das wirkliche Ende der Latenzzeit kam erst am 24. Juni 1966, in einer Szene wie aus einem Roman: Die in den USA kaum bekannten Rolling Stones waren zum ersten Mal auf Pressebesuch, und Linda Eastman, Gelegenheitsfotografin für das Hochglanzmagazin Town and Country, hatte die Einladung für den Empfang in der Redaktion abgegriffen. Als sie am bezeichneten Ort, dem New Yorker Yachthafen, ankam, sah es zunächst so aus, als dürfte die Presse gar nicht an Bord.
Durfte sie auch nicht. Dann plötzlich, „der Himmel weiß, warum, denn mir baumelte ja ebenfalls eine Kamera um den Hals, aber aus irgendeinem Grund führte mich Betsy Doster, die zum Management der Stones gehörte, aufs Schiff und erlaubte mir, die Rolle der einsamen Fotografin zu übernehmen... vielleicht war den Stones eine junge Blondine einfach lieber als die Presseleute, mit denen sie gemeinhin konfrontiert waren.“
Mit Sicherheit war das so, und doch ist diese kleine biographische Spekulation mehr als ein weiterer Beweis für die Penetranz der Attitudes rund um Sex, Drogen und Rock'n'Roll. Als Schlüsselsituation gelesen, zeigt sie viel eher ein im Entstehen begriffenes Produktionsverhältnis, eine Art Kontrakt, der über bloße Individualgeschichte hinausgeht: auf der einen Seite junge Männer, die es leid sind, von ahnungslosen alten Säcken abgelichtet zu werden; sie haben ein Interesse daran, einen neuen, verwegeneren Blick auf sich selbst zu etablieren.
Auf der anderen Seite der Kamera eine junge Frau, die diesen Blick erzeugt und gleichzeitig ausbeutet. Ihr Ziel ist es, sich ökonomisch abzusichern, daneben aber verfolgt sie ein Selbstverwirklichungsmodell, das Rock'n'Roll in ihr geweckt hat: weg von der Familie, weg vom Hochglanz, hin zu diesem anderen Leben mit ungehobelten Typen, das noch heute das Klischee der Sechziger bestimmt.
Es ist aber gerade das ursprüngliche Zusammenspiel dieser Wünsche und Interessen, das die Fotografien Eastman/McCartneys heute von der Masse der Sixties- Repros und Retros abhebt, und zwar auf den ersten Blick. Figuren sind zu sehen, die ein Image von sich geben wollen, das sie doch gleichzeitig erst erahnen.
Zum Beispiel Brian Jones. Breitbeinig und zurückgelehnt sitzt, nein liegt er mit halboffenem Mund in der Lounge dieser Segelyacht. Er trägt brandneue Breitcordjeans, ein Tupfenhemd und darüber eine Art Carnaby-Street- Jackett. Daß ein Button daran befestigt ist mit der Aufschrift „Sex is here to stay“ paßt natürlich aufs schönste zum späteren Ruf der Rolling Stones. Gleichzeitig aber ist einfach nur ein Junge aus der Arbeiterklasse zu sehen, der irre stolz ist auf seine Montur und sich mit Haut und Haaren dem Breitcordgefühl hingibt.
Oder Brian Wilson. Die Kamera hat es mit einem, mit dem Beach Boy zu tun, dem Mann, der schon damals eine Menge Hits über Mädchen, Strände und Autos geschrieben hatte, aber sie zeigt überm Blumenhemdkragen bloß einen fetten, neurotisch wirkenden Mann mit Serial Killer-Visage und viel zu kurzem Hals.
Die Unsicherheit, wo (unfreiwillige) Selbstdarstellung aufhört und Starschnitt beginnt, sorgt durchweg für angenehme Irritation. Jim Morrison agiert in irgend einem namenlosen Club vor einem Witz von Light-Show (mit Glühbirnen!) und wirkt wie ein begeisterter Chorknabe, Janis Joplin kaut versonnen an den Nägeln und hält tapfer und nichtsahnend (?) die Flasche Southern Comfort ins Bild.
Die Grateful Dead hat Linda Eastman dazu gebracht, kindisch eine Treppe herabzukrabbeln, und The Association, die 1967 mit „Windy“ einen Hit hatten, wirken wie eine Bande nicht geouteter Schwuler. Eines der schönsten Bilder zeigt Dylan, der mit Brille und erstaunlich vollem Bart (zupft er ihn sich sonst immer aus?) in einem wahrscheinlich unbeobachteten Moment wirkt wie ein chassidischer Jude.
Keine/r scheint die Option auf zukünftige Betrachter wirklich ernst zu nehmen, und das macht die Sache zum Spiel mit dem Moment. „Nachdem ich ihre Linse oft genug am eigenen Leib zu spüren bekommen habe, kann ich mit absoluter Sicherheit sagen, daß sie weiß, wann sie auf den Auslöser drücken muß“, schreibt Paul McCartney in einem Vorwort, und das stimmt sogar.
Auf der Produzentenseite spricht aus allen Fotos ein argloser, aber neugieriger und interessierter Voyeurismus, die Suche nach einem gemeinsamen Punkt, ab dem die neugewonnene Körperlichkeit der Sechziger einen Blick lizenziert, der sich seinen Objekten auf ebenso körperliche Weise nähern darf.
Linda McCartney interpretiert diesen Blick als zurückeroberte „Natürlichkeit“, aber er ist in Wahrheit das Resultat einer Beziehung. So wie den Filmen Godards anzumerken ist, wann er in die Hauptdarstellerin verliebt war, haben die besten Aufnahmen in diesem Band etwas von einer spontanen Begeisterung für das Gegenüber, die zwar die Zukunft vorbereitet, aber nicht bereits von dieser Zukunft aufgesogen ist. Mit „Love & Peace“ hat das weniger zu tun, wohl aber mit thrills, einem In the Band-Sein, diesem so oft beschworenen Community-Gefühl, das sich in Parks, heruntergekommenen Bürgerhäusern und Hotelzimmern ereignete und sich objektiv aus (zeitweiliger) Klassenabtrünnigkeit, Klasseninteresse, Technikentwicklung und gemeinsamem Herumhängen zusammensetzt.
Private und öffentliche Reproduktion sind für einen Moment nicht hinlänglich kodifiziert, und Linda Eastman ist das Girl with the Band – kein Groupie, aber eine Komplizin bei der Herstellerin seltsam unbeholfener, nur halb warenästhetischer und deshalb „authentischer“ Abbilder. Man muß nur hinsehen, um zu verstehen, warum so viele jüngere Leute beim Gedanken an die sechziger Jahre diesen Phantomschmerz empfinden, „das Jucken eines Körperteils, der ihnen vor ihrer Geburt amputiert wurde“ (Greil Marcus). (Und ich denke, das gilt nicht nur für Männer.)
Tatsächlich setzt ein Verfall der fotografischen Qualität ein, nachdem Linda Eastman Ende der Sechziger Paul McCartney geheiratet hatte. Es ist kein Verfall der formalen Mittel, die Bilder haben immer noch diesen familienalbumartigen Reiz. Aber plötzlich sind es eben Aufnahmen von Paul, wie er mit Kind und Kegel über schottische Hochmoore wandert oder sich den Nachwuchs vor den nackten Bauch hält.
Erbarmungslos dämmert der Kitsch der Siebziger herauf, während Linda sich um die Kinder kümmert, Bäume liebt und nach und nach bei Greenpeace einsteigt – She's a big girl now.
Linda McCartney: „Die 60er Jahre. Portrait einer Ära“.
Schirmer/Mosel-Verlag 1993, 78 DM
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