■ Tarifexperte Reinhard Bispinck zum Arbeitskampf:
: Drohender Tabubruch!

Reinhard Bispinck ist Mitarbeiter des DGB-nahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts WSI) in Düsseldorf.

taz: Herr Bispinck, die am Montag nach Vermittlung von Biedenkopf scheinbar unmittelbar bevorstehende Einigung im ostdeutschen Tarifstreit ist auf Druck der Arbeitgeberzentrale Gesamtmetall in letzter Minute gescheitert. Hat es einen ähnlich rücksichtslosen Kurs wie den der Kölner Zentrale in der bundesdeutschen Tarifgeschichte schon mal gegeben?

Reinhard Bispinck: Nach meiner Erinnerung nein. Es wird ganz deutlich, daß Gesamtmetall in diesem Konflikt eisern Regie führt und offensichtlich kein Interesse daran hat, über einen Kompromiß einen Arbeitskampf zu verhindern. Die Arbeitgeberzentrale verfolgt offenbar die politische Absicht, die IG Metall vor den Augen ihrer Mitglieder mit allen Mitteln in die Knie zu zwingen.

Gesamtmetall begründet das Nein mit den drohenden Pleiten bei Erfüllung der Lohnforderung. Nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) liegen die Lohnstückkosten im Osten bei rund 170 Prozent des westdeutschen Niveaus!

Im Kern geht es bei diesem Konflikt nicht um ökonomische Zwänge. Die Lohnstückkosten in der ostdeutschen Metallbranche sind schon erheblich zurückgegangen. Sie lagen im ersten Quartal 1991 um 79 Prozent höher als im Westen und sind bis zum vierten Quartal 1992 wegen der Produktivitätsfortschritte auf 123 Prozent des westdeutschen Niveaus gefallen. Es gibt also eine positive Entwicklung, die man nicht wegrechnen kann. Die Einlösung des vereinbarten Stufenplans zum 1.4.94 würde deshalb auch nicht zu der von den Arbeitgebern beschworenen Kostenexplosion führen.

Selbst in linksliberalen Blättern ist von einem „Amoklauf“ der IG Metall die Rede. Man wirft der Gewerkschaft vor, den Ostbetrieben gleich reihenweise den „Garaus“ zu machen. Nach Darstellung von Gesamtmetall sind allenfalls 5 Prozent der Ostbetriebe in der Lage, den vereinbarten Stufenplan ökonomisch zu verkraften.

Die Arbeitgeber haben noch nicht einen stichhaltigen Beweis für diese These vorgelegt. Wir haben die Facharbeiterlöhne von 20 unterschiedlichen Branchen im Osten verglichen und dabei festgestellt, daß die Metallöhne selbst nach dem vereinbarten Lohnsprung von 26 Prozent mit einem Monatsverdienst von 2.145 DM auf Platz 10 liegen. Die chemische Industrie, die jetzt eine Lohnerhöhung von 9 Prozent mit der Gewerkschaft vereinbart hat, und deshalb immer gegen die IG Metall von interessierter Seite als die Stimme der tariflichen Vernunft ins Feld geführt wird, hat einen Facharbeiterecklohn von exakt 2.144 DM! Die IG Metall hat auf die besonders schwierige wirtschaftliche Situation der Branche längst Rücksicht genommen. Das Gerede von einem „Amoklauf“ ist absurd. Die eigentlichen Schwierigkeiten der Metallbranche lassen sich durch Lohnverzicht nicht lösen. Daß die osteuropäischen Märkte weggebrochen sind, hat mit den Lohnkosten überhaupt nichts zu tun. Selbst wenn die ostdeutschen Metallarbeiter umsonst arbeiteten, wäre der Verlust nicht wettzumachen, weil es den ehemaligen Kunden an Devisen mangelt. Der zweite Grund für die Krise der ostdeutschen Metallindustrie liegt in der Produktqualität. Wettbewerbsfähige Produkte müssen erst noch entwickelt werden. Das wird man nur mit qualifizierten und entsprechend entlohnten Beschäftigten umsetzen können. Dazu bedarf es Zeit und Investitionen in den Produktionsapparat – nicht Lohnverzicht.

Zumindest in einigen ostdeutschen Betrieben sehen das die Beschäftigten und ihre Betriebsräte anders. Dort haben Arbeitnehmer aus Sorge um die Existenz „ihres“ Unternehmens auf Lohnerhöhungen verzichtet.

Natürlich kann man sich einige Fälle vorstellen, wo es zu Lohnverzichtsvereinbarungen kommt, aber grundsätzlich läßt sich die Finanzierung eines Sanierungskonzeptes nicht über Lohnverzicht der Beschäftigten realisieren. Wenn man eine ausschließlich produktivitätsorientierte Lohnpolitik in Ostdeutschland betreiben wollte, würde das völlig irreale Einschnitte in das Lohnniveau erfordern. Man muß einfach zur Kenntnis nehmen, daß die Vereinigung mit einer politischen Entscheidung zur Wirtschafts- und Währungsunion begonnen wurde, die auf die tatsächlichen ökonomischen Zusammenhänge keine Rücksicht genommen hat. Die Währungsunion hat von einem Tag zum andern eine Aufwertung und damit einen Kostenschub von 300 Prozent gebracht. Dieser Kostenschub wurde sozusagen politisch herbeigeführt. Man kann deshalb jetzt nicht fordern, ab sofort wird nur noch streng betriebswirtschaftlich gerechnet und die Tarifpolitik zu einem Ausfallbürgen vergangener politischer Entscheidungen gemacht.

Irgend jemand muß die Kosten tragen. Bei den noch nicht konkurrenzfähigen Treuhandbetrieben muß letztlich der Steuerzahler ran. Doch wer hilft dem in Schwierigkeiten steckenden Privatunternehmen? Soll es hier öffentliche Lohnsubventionen geben?

Zunächst einmal gibt es einen großen Anteil von Betrieben, die die Stufenanpassung bezahlen können. Dabei muß man ja auch berücksichtigen, daß selbst nach der 26prozentigen Erhöhung die effektive Lohnbelastung für die ostdeutschen Unternehmen wegen der im Westen gezahlten Zulagen und der kürzeren Arbeitszeit bei nur 56 Prozent des Westlohnes liegt. Für den Fall, daß trotz dieser Unterschiede einzelne Betriebe den Lohn nicht zahlen können, sind begrenzte Lohnzuschüsse durchaus vertretbar. Das Kapital wird in Ostdeutschland ja auch erheblich subventioniert. Jede investierte Mark wird ja im Extremfall mit bis zu fünfzig Pfennig bezuschußt. Lohnsubventionen für eine begrenzte Zeit können daher nicht tabuisieren.

Würde die Gewerkschaft damit nicht selbst die Tarifautonomie aushebeln? Wenn der Staat Löhne mitfinanzieren soll, wird er auch bei der Aushandlung mit am Tisch sitzen wollen.

Der Staat zahlt heute schon – insbesondere bei der Treuhand – mit. Es kommt also nicht durch den Stufenplan zu einem, wenn man es so nennen will, ordnungspolitischen Sündenfall, sondern der Staat ist durch seine politischen Vorgaben längst beteiligt.

Wenn die Kostenseite nicht entscheidend ist, wo sehen Sie dann die tarifpolitischen Ziele auf seiten von Gesamtmetall?

Ein strategisches Ziel der Arbeitgeber besteht darin, einen Tabubruch im Tarifbereich durchzusetzen. Es geht ihnen darum, die Rechtsgültigkeit von Tarifverträgen, die ja wie Miet- oder Kreditverträge rechtsgültige Verträge sind, auszuhebeln. Der Angriff zeigt ja schon Wirkung. Auch in anderen östlichen Branchen fordern Arbeitgeber inzwischen die Revision. Aber das Beispiel strahlt auch schon in den Westen aus. So verlangen beispielsweise die Bekleidungsindustriellen die Revision bereits 1991 abgeschlossener Verträge zur Arbeitszeitverkürzung. Eine starke Gruppierung im Arbeitgeberlager will den für die Bundesrepublik typischen Branchentarifvertrag durch Öffnungsklauseln aushöhlen oder sich den Tarifbindungen generell entziehen. Das in einer Situation, in der die Arbeitnehmer den Tarifvertrag als ein Schutzinstrument gegen den Abstieg nach unten dringender als je zuvor nötig haben. Das Interview führte

Walter Jakobs