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Gespräch im Vakuum

■ Jan Peter Bremers neuer Kurzroman „Der Palast im Koffer“

Parabel [gr.-lat.] die; –, –n; 1. lehrhafte Dichtung, die eine allgemeingültige sittliche Wahrheit an einem Beispiel (indirekt) veranschaulicht; 2. eine symmetrisch ins Unendliche verlaufende Kurve der Kegelschnitte, deren Punkte von einer festen Geraden u. einem festen Punkt gleichen Abstand haben (Math.); 3. Wurfbahn in einem –‘ Vakuum (Phys.)

Gegeben sei ein mittelgroßer Handkoffer, 1 Reisender, x Wanderer und je 1 Rucksack, 1 Park mit Bäumen, 1 Himmel. Gesucht sei: 1 Palast. Die Grundgleichung der sogenannte Bremer-Parabel lautet: f (1 Reisender + 1 Koffer) = (x Wanderer – 1 Palast)2. Das ist zu kompliziert?

Vereinfachen wir. Gegeben seien zudem die Enden der Parabel: „Der Reisende blickte in viele neue Gesichter. In diesem Moment endete die Reise“ und „Leblos lag der Reisende in der Wiese“. Oder anders: Man analysiere Jan Peter Bremers Roman „Der Palast im Koffer“ anhand folgender Leitfragen: 1. Was zeichnet eine Parabel im allgemeinen aus? 2. Wie läßt sich der „Palast im Koffer“ gegenüber a) Lessings Ringparabel b) Kafkas „Kafkabeln“ und c) Brechts Geschichten des Herrn K. abgrenzen? 3. Was bedeutet der Koffer?

Parabeln funktionierten früher bekanntlich wie Schluckimpfungen. Den LeserInnen wurde auf dem Zuckerstückchen der geschlossenen Form die bittere Medizin, die Moral, gereicht. Parabeln waren Belehrungsmanöver, von Aufklärern wie Voltaire und Diderot eigens aus der platonischen Tradition in den gemeinen Menschenverstand übersetzt. Selten ging es wirklich um wirkliche Tiere, Ringe oder Reisende ...

Seit einiger Zeit sind – man weiß nicht genau, warum – Aufklärer und Parabeln aus der Mode gekommen. Das Bewußtsein der Menschen ist nachlässig geworden. Statt Parabeln löst man Kreuzworträtsel. Das Lehrgedicht verschwindet im Sprachspiel und taucht als Hohlkörper wieder auf.

Wenn Jan Peter Bremer in seinen Romanen von Herr und Diener, Wanderern und Reisenden, Koffer und Rucksäcken spricht, sind immer die Begriffe selbst gemeint. Seine Sprache ist im Saussureschen Sinne geklärt. Im künstlich erzeugten Sprachraum kann das Spiel mit den alten Bedeutungsinhalten und Lebenskonstellationen neu beginnen.

„,Was gibt es denn hier?‘ fragte der Reisende und versuchte, links und rechts an den Wanderern vorbeizublicken. ,Uns!‘ riefen sie. ,Das weiß ich‘, antwortete der Reisende, ,sonst stündet ihr nicht vor mir und würdet mich nicht unterhalten. Dennoch muß ich meine Reise fortsetzen. Vorher allerdings würde ich mir gern euren Park ansehen. Jeder Park hat seine Eigenheiten.‘ – ,Auch unser Park hat Eigenheit!‘ fielen ihm die Wanderer ins Wort.“

Die Geschichte vom „Palast im Koffer“ ist schnell erzählt. Ein Reisender mit einem Koffer trifft auf einer Wiese auf eine Schar Wanderer mit ihren Rucksäcken. Die Wanderer begrüßen und bewundern den Reisenden. Sie bitten ihn, seinen verheißungsvollen Koffer zu öffnen. Der Reisende setzt sich hin, um auszuruhen, und erzählt vom Palast in seinem Koffer. Die Wanderer erzählen ihm von dem Haus, in dem sie wohnen, der Mutter, die ihnen am Morgen winkt, und dem Vater, dem Spaziergänger, der ihnen die Rucksäcke schnürt ... Weite und Enge, zwei Lebensentwürfe, definiert nur durch den Horizont, der sie umfaßt.

Ein Leitmotiv (Begrüßung, Abschied, Angst, Fürsorge oder Grausamkeit) leitet zum nächsten, eins das andere den LeserInnen verleidend, und hebt sich und alles endlich in einem leisen Lachen auf. Wanderer und Reisende ringen um ihre Idylle, die immer die des anderen ist.

In immer neuen Variationen feilschen sie um mögliche glückliche Orte, anderswo, im Koffer, zu Hause, im Bett, „unglücklich vor so viel Glück, das sie ihr Leben lang aus der Ferne beobachten müssen und nie bekommen werden“. Am Ende sind alle Paläste zu herrlich für die ängstlich-böswilligen Wanderer, den einsam-liebeskranken Reisenden. In ihrem Willen zur Idylle sind die vielen und der eine ununterscheidbar geworden.

Was sie denken, sagen sie. Was sie tun, wiederholen sie. Niemand hat ein Geheimnis, eine Lüge für sich. Alle Schätze breiten sie in Sätzen vor sich aus. Deshalb ist der Koffer das Lösungswort, das zu nichts mehr taugt. Wer das Lösungswort weiß, aber die Fragen nicht kennt, kann von Rätseln nichts verstehen. Der Koffer (ohne seinen Palast) ist zuletzt eine Worthülse, so leblos wie der Reisende, der auch nur zum Wanderer taugte, bestenfalls ein Ding, das rumsteht und stört.

Jan Peter Bremer hat sich der Parabel als idealer Form nur bedient. Im Kokon des parabolischen Gesprächs, das auf gelehrigen Hintersinn verzichten kann, knüpft Bremer an jeden Satz den einzig möglichen nächsten.

Und er tut das zuletzt noch in der autobiographischen Notiz, in der er sich kichernd selbst sein Leben erzählt: „Jan Peter Bremer wurde 1965 in Berlin geboren. Er wuchs auf dem Land auf und ist seit 1985 wieder in Berlin. Seither schreibt er Romane.“ 1988 erschien sein Erstling „In die Weite“, 1991 „Einer der einzog das Leben zu ordnen“.

Sein neuer Roman „Der Palast im Koffer“ ähnelt zwar in Aufbau und Tonfall den beiden ersten Werken („Ein echter Bremer!“), ist aber vor allem ein selbst-ähnlicher Roman, das heißt ein Gedankenpalast im Buchkoffer.

Ein Text, der funktioniert wie das handgefertigte Zahnräderwerk einer Spieluhr, Prosa zum Aufziehen und Aufgezogenwerden.Mirjam Schaub

Jan Peter Bremer: „Der Palast im Koffer“. Verlag Mathias Gatza 1992, 91 Seiten, 22,80 DM

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