Chronik eines Tages

August 1941, Warschau, im Ghetto. Ein Essay  ■ Von Lejb Goldin1

Anders klänge mein Lied, wenn ich es aussingen könnte... (Paraphrase des „Monisz“)2

Müde, blasse Finger hämmern irgendwo weit weg auf der Maschine. Irgendwo vielleicht in Krakau. Tik-tak-tak, Tik-tak-tak. Rom. Der Duce erklärt... Tokio. Die Zeitung „Asahi Shimbun“. Tik-tak-tik-tik. Stockholm... Tik- tik. Washington. Minister Knocks teilt mit... Tik-Tik-tik-tak-tak-tak. Und ich bin hungrig...

Es ist bald fünf. Im Zimmer steht schon der neue Tag vor der Tür. Ein leiser Windhauch. Wie ein kleiner Hund wollte er mit dir spielen, er streichelte den Hals, blieb am Ohr hängen, schmiegte sich an, neckte und rief dich zum Spiel. Ein unharmonisches Orchester schlafender Atemzüge. Kaum beginnt einer, kommt ein dritter und ein vierter. Während des Schlafs gibt es keine Gespräche mehr, sind die Streitworte zur Ruhe gekommen. Alle Augenblicke flicht sich in meinen Schlaf ein Seufzer. Und mir platzt der Kopf, so stark hämmert es in mir, Ohnmacht legt sich mir auf das Herz, der Gaumen wird trocken. Ich bin hungrig. Essen, essen, essen!

Die letzte Suppe3 gestern um zwanzig vor eins. Die nächste heute um die gleiche Zeit. Soviel Zeit habe ich schon hinter mir. Wieviel bleibt noch? Acht Stunden. Wobei eigentlich die letzte Stunde, wenn es schon nach zwölf ist, vielleicht nicht mitzählt. Dann bist du schon in der Küche, die Gerüche aus dem Kessel begleiten dich, du bereitest dich vor. Du siehst die Suppe schon. Also bleiben eigentlich nur noch sieben Stunden. Also nur noch sieben Stunden. Zum Lachen! Sieben Stunden – und du Einfaltspinsel sagst, nur noch sieben Stunden. Dann sag doch, wie sollst du die sieben Stunden aushalten, die nächsten zwei Stunden? Du liest, und nichts geht dir in den Kopf hinein. Obwohl du ein Buch unter dem Kissen hervorziehst. Ein deutsches. Arthur Schnitzler. Verlag soundso, Erscheinungsjahr, Druckerei. „Eva schaute in den Spiegel.“ Du drehst die erste Seite um, und plötzlich machst du dir bewußt, daß du außer diesem ersten Satz nichts verstanden hast. „Eva schaute in den Spiegel.“

Du liest schon die zweite Seite und verstehst weiter nichts. Gestern war die Suppe dünn und dazu noch kalt. Du gabst Salz hinein, das sich nicht auflöste. Und gestern starb Frydman. Er ist verhungert. Natürlich ist er verhungert. Man sah, daß er es nicht lange aushält. Und mir schneidet es den Magen. Ach wenn du jetzt ein Viertel Brot hättest! So ein viereckiges Viertel, wie sie in jeder Ladenauslage, an jedem Straßenstand liegen. Ach, lieber Bruder! So viel Süßes umgibt dich, daß du dich im Bett erhoben hast. Irgendwo auf der vierten Seite der Novelle fällt ein Name: Dionysia. Woher kommt sie, und was will sie? – Du hast keine Ahnung. Aber das Viertel Brot, aber der Teller Suppe! Die würdest du anders zubereiten. Du würdest sie zum Kochen bringen, damit es mindestens fünf Minuten braucht, bis du den Löffel herunterschlucken kannst, damit dir der Schweiß beim Essen ausbricht, damit du auf den Teller pusten mußt und damit du sie nicht gleich essen kannnst, ja so würdest du das machen!

Vielleicht ist es nicht schön, soviel an sich zu denken, nur an sich und an sich. Erinnerst du dich daran, wie du einst tausendmal gepredigt hast: Unser Jahrhundert ist das Jahrhundert der Masse, das Jahrhundert des Kollektivs. Das Individuum ist nichts. Phrasen! Nicht ich bin es, der so denkt, so denkt mein Magen. Er denkt nicht, er schreit, er ist bereit, mich umzubringen! Er fordert und reizt mich: Du Intelligenzler! Was ist aus deinen Theorien, aus deinen geistigen Interessen, aus deinen Träumen, aus deinen Zielen geworden? Du Neunmalgescheiter! Antworte! Erinnerst du dich, als dich jede kaum wahrnehmbare Veränderung, jede Bewegung des intellektuellen Lebens völlig von der Welt losreißen, dich vollständig vereinnahmen konnte. Und jetzt! Was plärrst du so? Weil ich es so will! Weil ich, dein Magen, hungrig bin – verstehst du?

Spricht da jemand so mit dir? In dir stecken zwei Menschen, Aron. Lüge. Ohne Poesie. Mach dich nicht selbst so wichtig. Diese Unterscheidung paßte früher, als man satt war. Damals konntest du sagen: Zwei Menschen ringen in mir – und du konntest dazu noch die dramatische Miene des Märtyrers aufsetzen. In der Literatur findest du natürlich solche Sachen. Aber heute? Hör auf zu faseln: Das bist du und dein Magen. Dein Magen und du. Zu neunzig Prozent dein Magen und zu einem kleinen Teilchen du selbst. Der kleine Rest, das bißchen, was von dem alten Arek4 übriggeblieben ist. Von dem, der einstmals reflektierte, der die Literatur verschlang, der kämpfte, der träumte. Von dem, der auf der Anklagebank demonstrativ lachte, der den Staatsanwalt mit ironischen Blicken verfolgte. Höre mich an, mein Magen: Es gab einmal einen solchen Arek. Der vor langer Zeit Rolland las, der mit Jan Christoph fühlte, der Anette bewunderte, der mit Breugnon lachte, der eine Zeitlang sogar in Thomas Manns Hans Castorp schlüpfte.

– Ich verstehe nicht, mein lieber Neunmalgescheiter, hast du damals etwa nicht gegessen?

– Aber wie denn, mein Magen, ich habe gegessen, natürlich habe ich gegessen, aber ich habe das nicht bemerkt. Ich habe dem Essen keine Aufmerksamkeit gewidmet.

Erinnerst du dich, mein Lieber, an den ersten Tag im Gefängnis? Du saßest betäubt und niedergeschlagen in einer Einzelzelle, gerade hatten sie dich hier hineingeworfen wie einen Lumpen in die Rumpelkammer. Zwei Tage hattest du nichts zwischen den Zähnen. Aber du spürtest keinen Hunger. Und plötzlich geht die „Judas“-Klappe auf: Guten Abend, Arek! Halte durch! Kein Grund, sich aufzuregen. Fall nicht vom Fleische! Hör zu, Arek, in der Ecke hinter der Heizung liegen Brot und Speck. Also iß was, Bruder, die Fortsetzung folgt morgen beim Hofgang. Erinnerst du dich?

Und gestern starb Frydman. Er ist verhungert. Er ist verhungert? Als du den Nackten sahst, als sie ihn in das riesige Massengrab warfen (alle hielten sich die Nase mit ihren Taschentüchern zu, nur seine Mutter und ich nicht), hatte er einen Einschnitt am Hals. Vielleicht ist er gar nicht verhungert, vielleicht hat er Selbstmord begangen? Aber nicht doch. Heute ist es nicht üblich, sich das Leben zu nehmen. Auch der Selbstmord gehört zu den Requisiten der guten alten Zeit. Wenn früher die Liebe zu einem Mädchen keine Erwiderung fand, dann jagte man sich eine Kugel in den Kopf oder man trank einen blumengeschmückten Becher Essigessenz. Wenn man früher Schwindsucht, Gallensteine oder Syphilis hatte, dann sprang man auf einer Nebenstraße aus dem vierten Stock, hinterließ einen stilvollen Brief: „Ich bitte, niemandem die Schuld zu geben“ und versetzte damit die ganze Welt in Erstaunen. Warum nehmen sich die Menschen eigentlich heute nicht das Leben? Die Qualen den Hungers sind doch schließlich viel schrecklicher, mörderischer und würgender als alle diese Krankheiten. Siehst du, alle diese Krankheiten sind schließlich menschlich, so manche vermenschlicht sogar den Kranken und adelt ihn. Der Hunger ist dagegen etwas Animalisches, Wildes, Primitives – ja, er ist eigentlich eine animalische Angelegenheit. Denn wenn du hungerst, bist du kein Mensch mehr, dann wirst du zum Tier. Und die Tiere wissen nicht, was das ist: Selbstmord.

– O weh, mein Schatz, eine große Theorie! Also sag, mein Neunmalkluger, wie viele Stunden bleiben uns noch bis zwölf Uhr?

– Sie still, es ist gleich sechs. Nur noch sechs Stunden, und du bekommst deine Suppe. Hast du gesehen, wie sie gestern begraben haben? Wie Müll schütten sie die Leichen in die Grube. Einmal die Kiste umgekippt, und die Sache ist erledigt. Auf den Gesichtern der Dabeistehenden zeigt sich dann der Ausdruck eines entsetzlichen Ekels, als ob sich der Tod dafür rächte, daß ihm der sakrale Nim

Fortsetzung Seite 14

Fortsetzung

bus genommen wurde, der ihm zugeschrieben wird und der in all diesem unnötigen und nebensächlichen Beiwerk steckt. Und jetzt hat er zum Trotz noch seine Hosen heruntergelassen und sein Leichenhemd abgeworfen, und er sagt uns ganz direkt, ihr könnt mich alle mal am Hintern küssen. Und weißt du, Bruder Magen, wie ich mir als Kind den Tod vorgestellt habe? Ich erinnere mich, wie ich im Alter von vier oder fünf Jahren in den Kindergarten ging [...]. Ich sah, wie der Leichenwagen auf den Hof fuhr, und dann fing gleich das Weinen und Klagen an. Ich stellte mir also vor, daß dieser Jude im schwarzen Kittel und mit dem steifen Hut auf dem Kopf eine Frau in den Leichenwagen ziehen will, die wehrt sich und gibt diese Laute von sich, sie wirft sich auf die Erde, er faßt sich mit beiden Händen, sie sitzt wieder und sinkt wieder hin und schreit und schreit. Wie gefällt dir das, mein Freund. Du antwortest nicht, du schläfst? Dann schlaf weiter, schlaf so lange wie möglich, am besten bis zwölf.

Essen, essen... Jetzt zieht es nicht vom Magen, sondern vom Gaumen, von der Schläfe. Hätte ich doch wenigstens ein halbes Viertel Brot, wenigstens ein Stück Rinde, meinetwegen verbrannt, schwarz, angekohlt. Ich schiebe mich aus dem Bett, eine Kelle Wasser gibt Linderung, dämpft für einen Moment den Hunger. Du gehst zurück ins Bett und fällst hinein. Die Beine versagen den Dienst, sind aufgedunsen. Sie schmerzen. [...] In der ersten Zeit des Krieges, als du dich in den Nächten auf dem Lager gewälzt und über die Lage nachgedacht hast, auch wenn du früh aufstehen mußtest, entriß sich dir häufig ein Seufzer. Jetzt ist Schluß damit. Alles verläuft jetzt so, als ob du ein Automat wärst. Oder vielleicht wieder ein Tier? Möglich.

Sterben? Einverstanden. Alles ist besser als der Hunger, ist besser als diese Qual. Ach wenn man nur abzählen könnte, wann du den Löffel abgibst. Die Frau vom Hof zum Beispiel, die aus der Nummer 37, die gestorben ist, hungerte sechs Wochen. Ja, aber sie aß nichts, nicht einmal diese Suppe einmal am Tag. Ich esse doch schließlich die Suppe, und so kann sich die Qual über Jahre hinziehen, oder soll ich den Bon schon morgen abgeben!5 Wer kann das wissen!

Ich bemerke, daß ich immer noch das Buch in der Hand halte. Die siebte Seite, tun wir es beiseite. Ich blättere es durch. Auf irgendeiner Seite bleibt das Auge bei dem Wort „Wonne“ hängen. Eine drastische, weit ausgebaute Liebesszene. Ein paar Seiten vorher haben sie in einem Restaurant gegessen. Schnitzler serviert dir das Menü.

Nein, nein, ich will nicht lesen. Du verspürst einen sonderbaren bitteren Geschmack im Mund, und es dreht sich dir im Kopf. Ein Fieber erfaßt dich. Lesen über ein Essen – nein. Das ist so, wie wenn alte Menschen die Beschreibung einer Liebesszene überblättern. Wie spät ist es? Halb sieben. Ach, so früh ist das noch. [...]

Ich denke an Thomas Manns „Zauberberg“. Noch niemals fand ich seine geniale Wahrheit so offensichtlich bestätigt wie jetzt. Zeit – und nochmals Zeit. Sie zieht sich manchmal hin wie Gummi und manchmal anders, wie der Schlaf, wie Rauch. Jetzt zieht sie sich schrecklich, endlos, daß es einen erschlägt. Der Krieg dauert schon fast zwei Jahre. Allein von den Suppen lebst du erst seit vielleicht vier Monaten? Und seit diesen paar Monaten zieht sie sich tausendmal länger hin, wie die vorhergehenden zwanzig Monate, ja als das ganze bisherige Leben. Die gestrige Suppe und die von heute trennt eine ganze Ewigkeit, und ich vermag mir nicht vorzustellen, daß ich noch so einen langen Tag aushalten kann, wenn einem der Hunger so im Hals steckt.

Ich erinnere mich an das Gefängnis, an die Einzelzelle. Die Tage schwarz wie Pech [...]. Am Gefängnistor warteten damald die Genossen auf mich, an alles erinnere ich mich nicht mehr. Aber an Janek7 erinnere ich mich. Ja, Janek war ganz sicher dabei. Wie konnte ich ihn so völlig vergessen. Vor kurzem, vor einem Jahr, traf ich ihn. Bis zum Gürtel nackt und abgerissen, reparierte er ein Gasrohr in einer Grube mitten auf der Marszalkowska-Straße. Er rief mir etwas zu. Und gleichsam leichthin, so als ob nichts seit unserer letzten Begegnung vor zwölf Jahren geschehen sei, fragte er mich gleich: Weißt du was? – Nein, und du? – Ich weiß auch nichts. Aber es läuft gut. Dann kam der Aufseher näher, und ich ging weg. Vielleicht kann ich also an Janek schreiben? Kann ich schreiben: Hör mal, Bruder, mir geht es schlecht. Schick mir was. Schreiben also? Ja, sogar noch offener: Könntest du mir täglich ein Viertel Brot liefern, wenigstens ein Viertel. Ja, sobald ich mich angezogen habe, schreibe ich an ihn. Es wird zwar schwer sein, das Briefchen rüberzuschicken, aber es soll geschrieben werden. Ein Viertel Brot, und wenn du nicht kannst, reicht auch ein halbes Viertel.

Irgendwo auf der Welt essen die Menschen, bis sie satt sind. In Amerika sitzt Herszel8 jetzt beim Abendessen. Auf dem Tisch stehen Brot und Butter und Zucker und eine Fleischdose. Iß, Herszel, iß. Iß, Herszel, iß, das rat ich dir! Laß die Rinde vom Brot nicht liegen, es wäre schade. Und iß auch die Krümel vom Tisch! Alles schmeckt, du hast dich sicher sattgegessen, mein lieber Herszel? Und irgendwo auf der Welt gibt es auch noch das, was Liebe heißt. Du küßt ein Mädchen, und es küßt zurück. Und stundenlang spazieren wir durch die Gärten und Parks, sitzen wir im Schatten eines weit ausladenden Baumes am Fluß, und die zärtlichen Worte klingen, und das Lachen perlt, und wir schauen uns in die Augen so freudig und zärtlich und begierig. An Essen denken wir nicht. [...]

Krankhafte Phantasien! Mischt sich dieser elende Magen ein. Er ist wach geworden, der Zyniker. Du mein Phantast! Anstatt real zu denken, liegt so einer herum und schwebt in den Wolken. Es gibt keine guten und bösen, keine intelligenten und einfältigen, keine verliebten und gleichgültigen Mägen. Auf der ganzen Welt will man essen, wenn man hungrig ist. Und, unter uns gesagt, die ganze Geschichte ist ein fauler Zauber. Es gibt nur gute Ernährer der eigenen Mägen und Tolpatsche, wie du einer bist. Du kannst jammern, du Idiot, aber wenn es darum geht, daß du mich füllst, dann bist du zu nichts zu gebrauchen. Wie spät ist es?

Zehn Minuten nach acht. Noch vier Stunden. Sogar keine ganzen vier Stunden mehr, aber nehmen wir an, vier ganze Stunden, und wenn es etwas kürzer ist, dann um so besser. Langsam ziehe ich die Hosen an. Ich kann die Füße nicht mehr erreichen.9 Bis vor kurzem habe ich sie noch erreicht. Ich habe mit der Hand gemessen, wie weit das ist. Jetzt geht das nicht mehr. Was soll's? Und Frydman ist gestorben. [...] Und vor dem Friedhof die Totenanzeigen der Reichen, der Herren Doktoren, der „Bürger“. [...] Eine Masse Rikschas10 wartet, viele Leute sind da; man sieht gleich, daß das keine Armen sind. Es sterben also auch solche, die zu essen haben. Man stirbt also nicht nur vor Hunger. Die Rechnung gleicht sich aus. Sie sollen das ruhig wissen.

Sag mal, Kollege, reichen deine Geschichtchen nicht allmählich? Es ist Zeit, sich auf den Weg zu machen. Vielleicht gibt es die Suppe heute früher. Mach dich auf, mein Lieber!

In der Luft des frühen Herbstes und in der Hitze der Straße schwebt der Geruch von Schweiß und der Leichengestank, als käme er gleichsam aus dem Beisetzungshaus auf dem Friedhof. Auf jedem Schritt Brot und Brot und Brot. Der Preis von gestern hat sich gehalten. Es lockt mich, an einen Stand zu gehen und die frischen Schwarzbrotlaibe anzufassen und zu kneten, die Fingerspitzen in den weichen, braun ausgebackenen Teig zu drücken. Nein, besser nicht. Das verschärft nur den Appetit und nichts weiter.

Nein, nein, genauso, wie du nicht lesen wolltest, was die Verliebten in dem Restaurant in einer stillen Wiener Straße gegessen haben. Der Rogen ist heute billiger. Der Käsepreis ist fest. Es gibt wieder Sahne, aber sie ist noch teuer. Gurken sind billiger geworden, aber der Zwiebelpreis ist fest. Dafür sind sie größer als gestern.

Die lebenslustigen Tomaten lachen dich voller Freude an und senden dir Grüße: Bergtouren, Rucksäcke, kurze Hosen, flatternde Hemden, wild, lustig, fröhlicher Gesang schwebt durch die Luft. Wann, wo? Vor zwei Jahren, gerade erst vor zwei Jahren. Braungebrannte Gesichter, schwarze Arme und schwarze Beine. Und lautes Lachen, und unerwartete Bäche Quellwasser, und Stullen mit gesüßtem Tee, und die Ärmel frei, ohne das „Jude“ auf der Armbinde. [...]

Die Altwarenhändler vor den Hauseingängen schauen dich an, schauen alle an, und taxieren dich nach dem Wert der Jacke, die du trägst, schätzen mit Kennerblick die Hose, die sie dir morgen von den Beinen ziehen, ob du tot bist oder noch lebst. Ein Windstoß bringt dir einen von einer Wand abgerissenen Papierfetzen: „400 Gramm schwarzes Salz. Obmann des Judenrates“13. Vielleicht zu ihm gehen? Aus der Erinnerung steigt eine Sitzung auf. Ein kleiner Saal, eine Glocke, eine Karaffe mit Wasser. Du erkennst ihn: eine hohe Gestalt, fleischige jüdische Nase, Glatze. Leicht vornübergebeugt. Heute ist er der Obmann. Vielleicht geradewegs zu ihm? Ihm schreiben: Geehrter Herr, ich fordere nicht viel von Ihnen, ich bin hungrig, vertehen Sie? Hungrig. Und dann fordere ich von Ihnen (hier muß man an die Bekanntschaft aus dem Jahre 1935 erinnern, wird er sich aber daran erinnern?), fordere ich von Ihnen, Herr Obmann, daß Sie dafür sorgen, daß ich täglich ein Stück Brot erhalte. Ich weiß, hochgeehrter Herr Obmann, daß Sie tausend andere Probleme um den Kopf haben, und was ist das für Sie für ein Problem, daß so ein verdrecktes Individuum wie ich vielleicht den Löffel abgibt. Trotzdem, Herr Obmann des Judenrates ...

Du stolperst über etwas auf der Erde. Fast wärest du hingefallen. Aber deine zwei Tischbeine halten doch das Gleichgewicht. Auf der Erde liegt über die ganze Breite des Gehwegs ein Haufen Lumpen mit einem grünen überwachsenen Schmutzknäuel, das einmal ein menschliches Gesicht mit einem Bart war. Jetzt begreifst du erst, daß der Ruf „Hallo, Hallo“ dir galt. Vorhin hast du dich nicht umgeschaut, denn die Juden haben ja schließlich keine Namen mehr. Jetzt steht schon so ein Altwarenhändler vor dir: Ob ich nicht gesehen hätte, daß ich fast auf einen Toten getreten wäre? Philosoph! Die Jacke sei wohl noch nicht zerknittert und verstaubt genug. Ich müsse wohl noch nachhelfen! Die Schuhe hat ihm schon jemand ausgezogen und in Bargeld verwandelt, aber zumindest die Hose hat er noch! Wie soll ich ihm erklären, daß ich gerade an den Obmann des Judenrates gedacht habe! Aus dem Tor kommt langsam der Hauswart [...] und bringt die Ziegelsteine14 und ein Blatt dreckige alte Zeitung, bedeckt die Leiche damit [...] und zieht sich langsam zurück. Erledigt.

Ein Teil der Uhren, die alten, kaputten, zeigen schon elf. Du hast sie lieben gelernt, die Uhren, die schon eine Stunde weiter sind. Die große dagegen, [...] die trägt die Nase hoch und macht langsam, also strafst du sie mit Verachtung. Also noch eine Stunde, halte dich also zurück und warte ... Warten ist auch eine Art, die Zeit zu verbringen. Noch ein Stunde. Ein paar Dutzend Minuten, eine große Sache für mich. Das sagt natürlich nichts, aber in der Zeit hättest du einen Kanten Brot gegessen. Ha? Was würdest denn du zum Beispiel machen, wenn du in dieser Zeit so einen Kanten bekommmen hättest? Hättest du ihn gleich aufgegessen, oder hättest du ihn für die Suppe aufgehoben, damit sie länger vorhält? Ich glaube, du hättest ihn aufgehoben. Du bist aber klug, und wenn die Suppe später kommt, wenn sie später ausgegeben wird, [...] ein wenig später, sagen wir, würdest du dann so lange warten? Ach, red keine Dummheiten, mach keinen Idioten aus dir, du würdest ihn doch verschlingen und auffressen, wie ein Wolf, ach, die Finger würdest du dir danach lecken. [...]

Die Suppe kam heute nicht später. Der Dampf hängt schon in der Luft. Die Teller klingen schon. Der Leiter schreit schon nach den Kellnerinnen, sien Vertreter durchmißt schon mit seinen kurzen Beinchen den Saal der Länge nach und nickt mit seinem dicken Kopf nach rechts und nach links wie in einem Puppentheater. Der Helfer des stellvertretenden Leiters schreit schon nach dem nächsten Esser. Heute kamen mehr Leute als gestern, und gestern waren es mehr Leute als vorgestern. Hast du ein Pech! Ausgerechnet heute fangen sie mit der Ausgabe bei dem Tisch da hinten an. Du wartest noch und wartest. Da bist du erst mal ganz schön angeschmiert, und da soll es einem das Herz nicht zerreißen.

Zeit – und Zeit. Erinnerst du dich, wie das in den Tagen war, als sie in der Küche so gleichgültig, fast als wollten sie sich rächen, erklärten: „Heute gibt es kein Mittagessen.“ Wie machten einen die Worte an der Tür frieren: „Die Karten für heute sind auch morgen gültig.“ Wie schrecklich zogen sich damals die Tage und Nächte hin. Und doch scheint es dir, daß diese Qual nichts ist im Vergleich mit der halben Stunde, die du heute warten mußt.

Am Tisch gegenüber ist es schon still geworden. Es herrscht eine andächtige Stille, sie essen schon. Und du weißt nicht, woher du den Eindruck hast, daß die Leute an diesem Tisch sich irgendwie besser und wertvoller fühlen als du. [...] Sie machen sich nicht so happ-happ wie du über die Suppe her, wie du das machst. Zuerst wird die Suppe gerührt, das Gesicht verzieht sich etwas zweifelnd, ob sie nicht zu dünn ist, man beginnt vom Rand, mit dem Flüssigen. Man bläst lange, langsam, gibt vor, sich für das zu interessieren, was im Raum vor sich geht [...], das Wichtigste ist, wie sich zeigt, die Decke des Raums. Nach den ersten Löffeln wird gesalzen. Und nach der Suppe verbreitet sich auf den Gesichtern so ein andächtiges, entrücktes Lächeln.

Und dein Tisch ist immer noch nicht dran. Kommt es dir nur so vor, daß um dich herum nur genauso langgezogene Gesichter sitzen, die anzeigen, daß ihre Mägen noch nüchtern sind, mit den geschwollenen Augen, dem typischen Ghettoblick, dem mongoloiden Ausdruck? Die Meister der Weltliteratur kommen dir in den Sinn, die Tolstoi, Balzac und Wassermann. Wie ließen sie sich doch anrühren von den Menschen, wie genau analysierten sie jede Bewegung, jeden Zug des Charakters. „Sie sind heute so blaß, meine Dame!“ schrieb so ein Genie, und die Welt ertrank in Entzücken. „Sie sind heute so blaß, meine Dame“, und die Frauen drückten ihr Taschentuch ans Auge, die Kritiker kommentierten, und die Herren vom Geschäft, die Besitzer der Tüllfabriken oder die Anteileigner der großen Tuchgeschäfte mit den weißen Marmorschildern spürten ein leichtes Zittern an der Wange, das sie an den ersten Kuß vor 50 Jahren erinnerte. – Sie sind heute so blaß, meine Dame! Haha! Das soll heute mal jemand schreiben oder lesen: Sie sind ja ganz blaß! Wo die Welt so leichenblaß ist, wo alle ohne Ausnahme das gleiche kreideweiße, kalkige Gesicht haben. Aber natürlich, sie konnten das so einfach schreiben. Sie haben gegessen, und sie wußten, daß ihre Leser essen werden und daß die Kritiker essen werden. Sollen doch heute diese Meister ihre Kunst beweisen und schreiben!

– Warum essen Sie nicht? – Was ist los? Um dich herum essen alle, und vor dir steht auch der Teller mit der dampfenden Suppe, in der sich die Sonne mit tausendfachem Glitzern spiegelt. Du hast dich in die Leute verguckt und nicht hingeschaut. Und hat sie die Karte genommen? Nein, die hältst du noch immer in den Fingern. Was heißt das? Rufen? Es sagen? Sie abgeben? Du bist schon fast fertig mit dem Teller, obwohl du später angefangen hast, während sie um dich herum noch die Suppe schmatzen und schlürfen und planschen wie eine Katze in ihrer Milch. Der zumindest, diese Kreatur, der so einen vollen Teller dicker Suppe mit viel Fett gekriegt hat und noch die Nase rümpft, daß man ganz neidisch wird. Schließlich sind das doch alles hungrige Menschen, und jeder von ihnen hat das Recht, so zu essen, wie er will. Ich bin sicher auch komisch über meiner Suppe. Ein anderer wieder gibt eine interessante Vorstellung, wenn er aufhört und den Teller so ruckartig neigt und die letzten Graupen zusammenschiebt und den ganzen Kopf hineinsteckt, als ob es die Erdkugel, als ob es ein Globus wäre. Ist das möglich, daß sie mir die Suppe ohne Karte gegeben haben? Du blickst verstohlen drauf, das Datum stimmt. Sie hat es ganz einfach vergessen und wegen des Durcheinanders die Orientierung verloren. Nein, nicht abheben. Und wenn sie es merkt? Vielleicht nicht. Unmöglich. Vielleicht noch eine Suppe essen? Und nichts sagen? Sie hat das sicher mit Absicht gemacht! Also, weißt du was, Arek? Wenn sich jetzt noch ein Mann an deinen Tisch setzt, dann iß noch eine Suppe, riskier es, wenn eine Frau kommt, dann ist das ein schlechtes Zeichen: Dann nutzt du die Karte nicht aus. Du senkst den Blick. An der einen Seite sitzt jetzt eine Mutter mit ihrem Kind. Die Kellnerin kommt, und die Mutter sagt laut zu ihrem Kind mit einem lieben Lächeln: Warte, warte, die Dame bringt dir gleich eine dicke Suppe. die Bank wackelt, jemand hat sich hingesetzt. Sie verdecken dich, du siehst einen hellen Mantelsaum. Ein Augenblick: ein Mann, eine Frau, ein Mann, eine Frau. eine Frau! Das Gesicht, das Augenpaar, eine Mumie, ausdruckslose Augen. Eine Frau, zum Teufel, eine Frau. Also die Karte nicht abgeben, keine zweite Suppe nehmen? Du wolltest es doch selbst so. Aber jetzt sind die Suppen immer besser, immer dicker, immer heißer. Woher weißt du das? Es ist immer so. Je später, desto besser. Also: noch einmal. Von neuem. Ein Mann oder eine Frau, ein Mann oder eine Frau ...

Um mich herum ist alles ununterbrochen in Bewegung. Leute kommen herein, gehen hinaus, setzen sich hin, sprechen miteinander. Polnisch, Jiddisch, Hebräisch, Deutsch. Mal hier, mal dort ruft einer wie aus der Pistole geschossen: Wer? Gestern habe ich ihn doch erst gesehen! Wer? Noch vorgestern hat er hier gesessen. – So spricht man über die Toten, über die Verhungerten, über die an den Läusen, der „heutigen Krankheit“15 Gestorbenen. Und dazu flüstert man sich noch diskret ins Ohr: „Aber sagt es nicht weiter.“ Das heißt, daß er zu Hause gestorben ist, also ohne Meldung. Alle Gespräche beherrscht ein Thema: Das hält niemand aus, der Winter steht vor der Tür. Wenn sich das noch bis zum Winter hinziehen soll ... Im letzten Jahr ging es noch so halbwegs. Es trafen Pakete ein, die Abriegelung war noch nicht so dicht ... Das hält man nicht aus, das hält man nicht aus. Und was sollen Menschen machen, die zum Tode verurteilt sind und das genau Hinrichtungsdatum kennen? Als während der großen Revolution die französischen Aristokraten im Gefängnis saßen, spielten sie Karten und inszenierten Theaterstücke, bis zu dem Moment, als der Wächter mit der Tricolore kam und den Namen aufrief: Die Guillotine wartet. Also siehst du? Nur waren sie nicht hungrig, und ihnen drohte nicht der Hungertod. Das stimmt, und das ist der Kern der Sache. Und dann während der letzten russischen Revolution? Aber was geht mich die große Politik an: ein Mann, eine Frau, ein Mann, eine Frau ...

Und dann kam die Kellnerin und sammelte automatisch die Karten ein. Alle geben sie ab, du auch. Es ist geschehen. Und du tauchst deinen Löffel in den Teller, in die zweite Suppe, verstehst du? Und sie ist wirklich dicker als die andere. Jetzt erlaubst du dir das Spiel, ißt langsam wie alle, verschlingst sie nicht. Nimmst keine vollen Löffel. Von Zeit zu Zeit spuckst du eine Hülse aus, wie es sich für einen anständigen Menschen gehört, du schlingst nicht.

Und wieder weht dich die Straße mit ihrem Leichengeruch an. Und, bel ami, deine Beine sind wie ein gerade erst in Gang gesetzter Flugzeugpropeller, der in Leerlauf läuft, bevor es losgeht. Es scheint, sie gehen rückwärts. Holzklötze.

Haben sie dich vielleicht nicht doch noch kontrolliert? Unwillkürlich wischst du mit der Hand über das Gesicht. Und was wird geschehen, wenn es herauskommt? Vielleicht nehmen sie dir zur Strafe die Suppe weg? Ist das nicht zu sehen, daß es schon rausgekommen ist? Der da, der gerade an die vorübergeht, schaut dir so frech in die Augen. Der weiß es. Auch der da lacht, und ein zweiter und ein dritter. Hihi, sie unterdrücken ihr spöttisches Lachen, und du machst dich so klein, daß du dich zusammenziehst. So gehst du in die Falle, du Fuchs. Ein Dieb? Nur ein Tolpatsch. Und diese eine Suppe kann dich alle Suppen kosten.

Ein Stechen in der linken Seite. Der Arm, das Bein, das Herz, nicht zum erstenmal, aber dieses Mal sind die Symptome stärker. Du mußt dich zurückhalten. Du spürst, daß jemand dich anblickt. Zu spät, um zu reagieren. Mitten auf der Straße fährt der Direktor der Sozialhilfe16 in einer Rikscha. Er war einmal ein Bekannter von dir. Ja, er schaut auf dich. Du hast die Fähigkeit zu spüren, wenn jemand dich anblickt. Immer wenn du ihn vorbeifahren sahst, hast du versucht, seinen Blick auf dich zu lenken, aber ohne Erfolg. Und heute ist es genau umgekehrt: Er hat dich bemerkt. Vielleicht ... Vielleicht weiß er es auch schon?

Der Direktor ist schon weit weg, Dutzende anderer Rikschas verdecken ihn. Aber das Stechen bleibt, zum Teufel, gerade jetzt mußte ich hier über die Straße gehen. Andere gehen vorüber, streifen dich fast und erkennen dich nicht oder geben vor, dich nicht zu erkennen. Und der hat dich auf eine Rikschalänge gesehen und verschwand aus dem Blck. Was wird jetzt sein?

Neben dem Tor liegt in einer engen Vertiefung eine grüne Gurke. Ganz und unversehrt. Sie ist wohl einer Hausfrau aus dem Netz gefallen. Mechanisch, gedankenlos greifst du nach ihr, nimmst sie, und es ist dir weder peinlich noch eine Freude. Sie gehört dir. Wie ein Hundeknochen. Eine bittere Gurke, aber du spürst schon durch die Schale den süßen Geschmack der Kerne. Das ist ungesund? Typhus? Die Ruhr? Dummheit. Über dreitausend Jahre hinweg haben ganze Generationen von Wissenschaftlern ihre genialen Begabungen, ihre jungen Jahre und ihr ganzes Leben dafür eingesetzt, der Natur die Geheimnisse der Vitamine und Kalorien abzuringen, damit du schließlich, mein Arek, am Tor in der Leszno- Straße an einer gefundenen Gurke knabberst, die jemand verloren oder vielleicht hingeworfen hat. [...]

Und plötzlich fällt dir dieser tote Jude ein, über dessen Leiche du heute fast gefallen wärst. Noch seltsamer, jetzt siehst du ihn deutlicher als in dem Augenblick, als du ihn einfach angeguckt hast. Einstmals, vor vielen Jahren, glaubte die Mutter, wenn sie ihr Kind nährte, wenn sie ihm den Kopf wusch, daß ihr Sohn das klügste, das begabteste, das schönste aller Kinder sei. Und sie hat der Tante, den Nachbarinnen immer wieder gesagt, wie klug es ist. Jeden einzelnen Zug im Gesicht sah sie und pries ihn über alle Himmel: Ganz der Papa, nicht wahr. Und sein Name Beriszl war für sie nicht nur ein Name, sondern der Inhalt ihres Lebens, eine Weltanschauung. Und jetzt liegt ihr Kind, das begabteste und schönste Kind der Welt, auf einer fremden Straße, und niemand weiß, was es einmal für einen Namen trug, es liegt und stinkt, und statt der Küsse seiner Mutter bekommt es einen Ziegelstein auf den Kopf gelegt, und der Nieselregen verwäscht das elende Zeitungspapier auf seinem Gesicht. Und gleich daneben wird ein Kind operiert, als sei nichts geschehen, es wird gerettet, und unten vor dem Tor steht die Mutter, die weiß, daß auch ihr Beriszl das klügste, das schönste, das begabteste aller Kinder ist. Wofür? Für wen? Für wen?

Und plötzlich, du Bengel, du großer, stämmiger Mann! verspürst du ein Zittern auf den Wangen, in den Händen, am ganzen Körper. Und deine Augen werden seltsam neblig, werden glasig. Genauso soll es ja sein. Das ist das Symbol, verstehst du? Das ist jene gerade Linie, die das ewige Gesetz des Lebens ausgleicht. Es mag dir gegeben sein, daß du gerade jetzt, wohl in deinen letzten Tagen, den Sinn dieses Unsinns verstehst, der da Leben heißt, den Sinn deiner grausam sinnlos hungrigen Tage. [...]

Wir entnehmen den Text mit freundlicher Genehmigung der Edition Hentrich dem gerade erschienenen Band „Die zweite Etappe ist der Tod“, hrsg. von Ruta Sakowska.

1 Dieser Essay ist, wie Bernard Mark annimmt, von dem Schriftsteller Lejb Goldin (1906–1942) verfaßt worden, Mitglied der Arbeitsgruppe des Untergrundarchivs des Ghettos, Essayist und Übersetzer von Werken der europäischen Literatur ins Jiddische. Goldin arbeitete vor dem Krieg mit der linken Zeitschrift „Literarische Tribune“ und im Ghetto mit der Untergrundpresse des „Bund“ zusammen. Er starb im Sommer 1942 in Treblinka.

2 „Monisz“: Titelheld eines berühmten Poems von Icchak Perec.

3 Das Stück Zuteilungsbrot und die Suppe in der Volksküche waren für viele Bewohner des Ghettos die einzige Mahlzeit am Tag.

4 Hinter dem Namen „Arek“ (Verkleinerungsform von Aron) verbirgt sich der Autor des hier publizierten, zweifellos autobiographischen Textes.

5 „Den Bon abgeben“ hieß in der Sprache des Warschauer Ghettos: den Geist aufgeben. Bon bedeutet hier die Lebensmittelkarte.

6 Als Kellnerinnen waren im Warschauer Ghetto Frauen aus verarmten bürgerlichen Familien tätig. Diese Gruppe war in Polen zu einem großen Teil assimiliert und betrachtete die jiddische Sprache herablassend als Volkssprache. Der Verfasser des Textes sprach dagegen in der Öffentlichkeit demonstrativ jiddisch und betonte so seine Position, daß Jiddisch die Nationalsprache sei.

7 Janek: ein polnischer Kommunist. Das erwähnte Gespräch betraf die Chancen für einen Neuaufbau der 1938 aufgelösten Kommunistischen Partei Polens.

8 Herszel: Wahrscheinlich ein Verwandter des Verfassers.

9 Der Held des Textes litt an Hungerödemen.

10 Die Rikscha war im Warschauer Gehtto ein viel gebrauchtes Verkehrsmittel.

13 Obmann des Judenrates im Warschauer Ghetto war Adam Czerniaków (1878–1942).

14 Die Augen der Toten, die im Warschauer Ghetto auf der Straße lagen, bedeckte man mit einem Stück Zeitung, das mit einem Ziegelstein beschwert wurde.

15 „Heutige Krankheit“: Flecktyphus, der durch Läuse übertragen wird. An der „heutigen Krankheit“ Gestorbene wurden meist nicht der Ghettoverwaltung gemeldet, um so die Quarantäne und die Dampfdesinfektion zu vermeiden, die noch den Rest der Habe zerstört hätte.

16 Die Jüdische Soziale Selbsthilfe ZSS