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Kanten schleifen

Ford oder Marx? Im Hagener Osthaus-Museum steht Stromlinienformnicht nur für Windschnittigkeit  ■ Von Jochen Becker

Gleich einem Kreuzzug der Moderne gestaltete sich eine Tournee, bei der Anfang 1934 Parade-Loks wie die „Zephyr“ oder „City of Salina“ quer durch die Vereinigten Staaten geschickt wurden. Zur Bekämpfung der wirtschaftlichen und mentalen Depression fuhr die Zukunft bis in die tiefste Provinz des Mittleren Westens. Wacklige Amateurfotos der zu den Bahnübergängen pilgernden Landbevölkerung bezeugen den aluminiumglitzernden, kraftstrotzenden und windschnittigen Wandel, den Lokomotiven des Fortschritts wie der „Mercury“ mit seinen beleuchteten Triebrädern oder das „Railplane“ schon bald verkörperten. Im Hagener Osthaus-Museum unterstreicht die Einspielung eines euphorischen Big-Band-Sounds das „Gefühl der Stärke und das Versprechen sicheren Überflusses“ (Jeffrey L. Meikle).

Die Weltausstellungen in Chicago („A Century of Progress“) und New York („The World of Tomorrow“) verhießen Mut zur Zukunft. Man befand sich „In tune with tomorrow“, während man durchs „Futurama“ wandelte oder die künstliche Metropole „Democracity“ besuchte. Mit großem inszenatorischem Aufwand wurde die Vergangenheit zugunsten neuer Sachlichkeit zurechtgeschliffen. Doch noch vor Toresschluß der New Yorker Schau setzt die Beteiligung am Zweiten Weltkrieg den phantastischen Visionen und „New Deals“ ein Ende. Es folgten patriotische Schwüre und volkstümliches Entertainment.

Die Zeit bis zum Kriegseintritt wird vom ehemaligen Bühnenbildner und Erbauer des General-Motors-„Futuramas“ Norman Bel Geddes stilbildend geprägt. Seinen vollverkleideten Bussen, Zügen, Ocean Liners und später auch geschoßabweisend glatten Panzerwagen widmet die umfangreiche und gut inszenierte Hagener Ausstellung einen gesonderten Raum. Geddes 1932 erschienenes Buch „Horizons“ gilt als Meilenstein des Produktdesigns. Der meisterliche Kommunikator wußte sich stets gut zu plazieren. So propagierte er recht bald, daß nicht das Auto, sondern die effiziente Verkehrsführung und Stadtplanung stromlinienförmig optimiert werden müßte. Mit den allgegenwärtigen Verkehrsschneisen durch unsere Metropolen wurden Geddes Visionen einschneidende Realität.

Zwischen all den aerodynamischen Solarmobilen, Schienenzeppelinen und Demonstrationsvideos der Strömungslehre steht im Osthaus-Museum auch eine bei Hagen eingeschlagene, jedoch nicht explodierte Luftbombe. Der rostige Überzug auf dem ansonsten wohlgeformt-optimierten Detonationskörper stört die allgemeine Harmonie. Gleich neben ihr liegen verknotete Reste eines Zeppelin-Gerippes: Die Katastrophe von Lakehurst und die lichterloh entflammte „Hindenburg“ markierten das Ende der großbürgerlichen Luftschiffahrt. Zeppelin, U-Boot und Torpedo waren allesamt kompliziert zu entwickelnde, da dreidimensional umströmte Fahrzeuge. Der Katalog erinnert aber auch an zwei militärische Gegenstände, bei der die Stromlinie radikal negiert wurde: der Fallschirm und jüngst der nur mittels hochkomplizierter Elektronik überhaupt flugfähige Stealth- Bomber.

Nur zögerlich fanden die Entwürfe und Visionen der Designer und Ingenieure nach dem Zweiten Weltkrieg wieder Anschluß an die losen Enden ihrer populären Vorkriegs-Moderne. Heute macht man um den Cw-Wert kaum mehr Aufsehens; futuristische Visionen haben sich in Disneys Epcot-Center oder – wie das Ufo-artig aufgeständerte Modell eines Citroän DS 19 – auf Handelsmessen verzogen: die Ära der hymnisch gefeierten Stromlinienform ist Vergangenheit.

Schon Christian Philip Müller demonstrierte mit seiner Ausstellung „Vergessene Zukunft“ im Münchner Kunstverein (siehe taz vom 9.6.92), daß sich an den gebauten Visionen sehr deutlich eine Sozialgeschichte der populären Moderne ablesen läßt. Die Hagener Präsentation, welche in modifizierter Form vom Zürcher Museum für Gestaltung übernommen wurde, untersucht die Objekte aus industrieller, wissenschaftlicher und künstlerischer Produktion vorrangig als Zeugnisse menschlicher Kultur. Die Ausstellung blickt dabei – trotz einiger zeitgenössischer Exponate wie der Telekom- gesponsorten Rennradverkleidung, eines Solarmobils oder eines Abfahrtsläuferhelms wie aus „Star Wars“ – zurück in die Zukunft.

Während die Skizzen und Prototypen der Stromlinien-Pioniere erst heute beim ICE, der Concorde oder dem Transrapid effektiv Anwendung finden, ist die Arbeits- und Lebenswelt spätestens seit Henry Ford und Frederick Winslow Taylor tief durchdrungen von der geschliffenen Optimierung und aalglatten Abrundung des Produktionsprozesses. Christoph Bignens weist in seinem Katalogbeitrag „Gesellschaft im Windkanal?“ auf die um 1900 erstmals auftauchende Bezeichnung „Amerikanismus“ hin. Damit verbunden ist die Vision, daß „eine effiziente, marktwirtschaftlich organisierte Bedarfsgüterindustrie die Harmonisierung sozialer Gegensätze auf friedlichem Weg bewerkstelligen könne“. Schon Ende des 19. Jahrhunderts versuchte der Wagonfabrikant Pullmann, „dem klassenkämpferischen ,roten‘ einen friedfertig ,weißen‘ Sozialismus entgegenzuhalten“. Zumindest sein sachliches Stahlrohr-Design und das platzsparende Klappmobiliar wurde von der Bauhaus-Avantgarde in Weimar und Dessau begeistert aufgenommen.

In seinem Buch über „Die Herrschaft der Mechanisierung“ beschreibt Sigfried Giedion den Bedeutungswandel des Wortes „stromlinienförmig“, denn „seit der Mitte der dreißiger Jahre [...] spricht man vom ,streamlined‘ eines Betriebes, einer Verwaltung, ja einer Regierung“. Was einst als Glättung der Produkte gedacht war, griff auf den gesamten Produktionsprozeß über, um anschließend auch im sozialen Bereich Fuß zu fassen. Nicht nur bei der Herstellung, sondern im gesamten öffentlichen Leben sollten der Wirkungsgrad erhöht, Zeit und Geld eingespart und Widerstände gemindert werden. Die Begeisterung für den glatten und reibungslosen Fortschritt, der aus der Depression und Wirtschaftskrise führen sollte, beflügelte zahlreiche Propagandisten der „Sozialhygiene“.

1906 betitelte Werner Sombart seine Studie „Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus?“, und 1925 veröffentlichte Jakob Walscher eine Publikation, die nur noch rhetorisch die Frage nach der Alternative „Ford oder Marx“ stellt: Die alle Bereiche umfassende und noch heute wirksame Techno-Demokratie ist nicht zuletzt durch Henry Fords optimierten Warenstrom des Fließbandes geprägt. Frederick Winslow Taylors Hauptwerk „Scientific Management“ wiederum beeinflußte nicht nur maßgeblich den american way of life, sondern auch die sowjetische Planwirtschaft unter Stalin.

Die scheinbare Angleichung der Lebensverhältnisse hatte neben der Unterdrückung des Details und dem Abschied vom Ornament eine nivellierende bis monotonisierende Wirkung: „Streamlining is Cleanlining“. Sogenannte Sozialingenieure sollten eine reibungslos und zweckmäßig funktionierende „Sozialmaschine“ konstruieren, die alles Vorstehende und Turbulenzen Verursachende – Gewerkschaften, Oppositionelle, Drückeberger – auszumerzen hatte. Die Disziplinierung der Arbeiterschaft diente dem Zweck, mit geringstem Energieaufwand nicht nur besser, sondern schneller und billiger zu arbeiten. Heute nennt man diese Entschlackung „Lean Production“.

Schlankheit – das zeigt ein Schaubild in Hagen sehr deutlich – hängt eng mit der Stromlinienform zusammen. So erstellte der Star- Designer Raymond Loewy eine Chronologie der Gestaltentwicklung von Telefon, Damenober- und -unterbekleidung, die im Dienste der Guten Form ihre einstmals barocke Pracht und ornamentalen Schnörkel ebenso fallen lassen wie die „überflüssigen“ Pfunde. So ist an Loewys „Entwicklungstafel“ ablesbar, wie die Produktgestaltung auf das Design der eigenen Figur und des eigenen Erscheinungsbildes übergreift: Die Frau wird zum formbaren Objekt. Loewys „Evolution Charts“ suggerieren das gleichsam Natürliche dieser „Optimierungen“. Zwangsläufig wie die Entwicklung von der Kaulquappe zum Menschen finden auch die anderen Dinge des Lebens zu ihrer vorherbestimmten Form. Während des Dritten Reiches nannte man die sich parallel zur Natur „evolutionär“ herausschälende Formgebung der Waffen und Verkehrsmittel bezeichnenderweise „Biotechnik“.

Eine weitere Form der Schlankheit ist die Gewichtsersparnis durch Leichtbauweise. Sie gilt als die unsichtbare Seite der Stromlinienform, da Alubleche, Lochverstrebungen oder selbsttragende Schalenbauweise vom Laien höchstens als Baustil bemerkt werden. Weitaus anschaulicher gestalten sich die Experimente im Windkanal und die mittels Rauch, Färbemittel oder Wollfäden sichtbar gemachten Strömungsversuche am Muster. Denn für die optimale Stromlinie gibt es keine wissenschaftliche Formel. So testete Paul Jaray in fotografisch erhalten gebliebenen Versuchsreihen, wie durch steuerbare „Windlenktore“ das Andocken hochbrennbarer Luftschiffe am Hangar gefahrloser zu steuern sei. Absurd wirkt die Abbildung eines Skispringers, welcher – gefangen wie die Fliege im Spinnennetz – sich den letzten aerodynamischen Schliff im Windkanal geben läßt.

Sobald man mit den originalen Dimensionen nicht arbeiten kann, muß das verkleinerte Modell im Windkanal oder Wasserbecken mit einer höheren Geschwindigkeit als der ursprüngliche Körper angeströmt werden, um vergleichbare Werte zu erhalten. Selbst mit dem Computer kann man der unberechenbar chaotischen Faktoren (Schmetterlingseffekt!) nicht Herr werden. Nicht nur der ebenfalls vorgestellte Klassenversuch der Gesamtschule Hagen-Haspe, sondern auch professionelle Experimente bedienen sich in handwerklicher Manie handgefertigter Prototypen: Eine Teststrecke durch zwei Hörsäle der ETH Zürich wirkt, als hätte jemand seine Modelleisenbahn ausgepackt.

Doch nicht alles, was windschnittig daherkommt, ist durch den Windkanal gegangen. Als die Stromlinienform sich allgemein durchsetzte, wandelte sich ihr Zweck zum Stil. Mit markigen „speed lines“ setzten Designer ein Zeichen für Tempo und verpaßten dem alltäglichen Gerätepark – vom Toaster über den Mixer bis zum Elektrorasierer – eine dynamisierte Form. Suggestiv fügt der Katalog schnittige Bügeleisen, umkleidete Rennmaschinen und windschlüpfrige Züge wie aus einem Guß aneinander.

Als eine „Ausstellung über den Eros des Objekts“ wird für die Hagener Präsentation geworben. Der Titel verführt und ist zugleich etwas abwegig. Natürlich bezaubern die durchs Wasser glattgeschliffenen Steine und Wurzeln oder faszinieren die stromlinigen Körper von Hammerhaien, Pinguinen oder Mauerseglern. Auch Kunstwerke wie Alexander Archipenkos „Torso im Raum“ oder Adam Antes aus dem Duisburger Lehnbruck-Museum entliehenes, recht funktionabel erscheinendes „Nurflügel-Modell“ weisen erstaunliche „morphologische Verwandtschaften“ zur toten und lebenden Natur. Dennoch wirken die hier zusammengestellten Kunstexponate eher gesucht als getroffen.

Während die von Claude Lichtenstein und Franz Engler in Zürich erarbeitete Schau sich vorrangig aufs Produktdesign konzentrierte, arbeitete das Hagener Team eng mit dem Aachener Institut für Strömungslehre und Aerodynamik zusammen, um neben den Aspekten sinnlicher Anziehung vor allem eine Wissenschafts- und Industriegeschichte der Stromlinienform vorzustellen. Als Struktur und Stil – und weniger als Form – ist sie weiterhin Maßgabe unserer Wirtschafts-Moderne. Wer sich also an schnittigen Zügen, Zeppelinen und Flitzern erfreuen möchte, den sollten die Bezeichnungen „Lean Production“, „Stealth“ oder „Cruise Missile“ nicht völlig befremden.

Bis zum 30. Mai in Hagen, anschließend vom 8. Juli bis 26. September in der Zeppelinabteilung des Städtischen Bodenseemuseums Friedrichshafen. Die inzwischen zweite Auflage des empfehlenswerten Katalogs erschien im Verlag Lars Müller/Baden und kostet an der Kasse 45 Mark. Für den 9. Mai ist eine Sternfahrt stromlinienförmiger Automobile zum Hagener Museum geplant.

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