: Mißbrauchte Figur-betr.: "Drinnen Kollwitz, draußen Paradeschritt", taz vom 14.4.93
betr.: „Drinnen Kollwitz, draußen Paradeschritt“,
taz vom 14.4.93
In der Gedenkstätte Neue Wache in Berlin soll die Skulptur „Frau mit totem Sohn“ von Käthe Kollwitz als „würdiger“ Ausdruck nationaler Trauer und Erinnerung aufgestellt werden. An diesem Ort würde die Figur die Tradition des militaristischen Denkens und Handelns fortsetzen, in dem die Frau stets als Gegenpol zu staatlicher Gewalt – und Kriegsbereitschaft fungierte. Dies zeigen die zahlreichen nach den beiden Weltkriegen errichteten Kriegsdenkmäler mit der plastischen Gruppe der Pietà oder der profanierten Fassung der Mutter mit dem toten Soldaten, die – selber schmerzensreich – den Überlebenden Trost versprach. Als Identifikationsfigur taugte sie für Kriegsdenkmäler im Westen wie im Osten Deutschlands gleichermaßen. Denn mit dem Symbol der duldenden und opferwilligen Frau ließ sich erfolgreich staatlicher Friedenswille propagieren.
Dieses Bild unterschlägt die Frau als Täterin – ihre nationalistische und militaristische Einstellung, die Erziehung der Söhne zu Soldaten, die mentale Mobilisierung, die sie mit ihren Mitteln betrieb. Es verdrängt aber auch die Frau als Kriegsopfer – die Vergewaltigungen in Bosnien zeigen es – und die „Frauen in Schwarz“, die sich mit ihrem öffentlichen Protest gegen staatlichen Terror und die Funktionalisierung weiblicher Trauer wehren.
Daher ist es unerträglich, daß die mißbrauchte Gestalt der „guten Mutter“ erneut zur nationalen Trauerfigur erhoben wird und der staatlichen Imagepflege dienen soll. Hier wäre ein Engagement der Friedensbewegung zu wünschen, für die die Arbeitsteilung zwischen Gewalt, Aggression auf der einen, Trauer und Heilung auf der anderen Seite längst obsolet geworden ist. [...] Ellen Spickernagel, Bielefeld
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