Im Reich des Rattenkönigs

■ Hinweis auf das Werk des englischen Krimi-Autors Michael Dibdin

Innerhalb eines Jahres werden sämtliche Romane eines britischen Autors in Deutschland veröffentlicht. Der Erfolg einer ausgefuchsten Marketingstrategie? Oder hat man da vielleicht nur zu lange mit dem Lizenzeinkauf gewartet? Schließlich hat Michael Dibdin bereits vor fünf Jahren seinen ersten Krimi-Preis erhalten – den „Gold Dagger“ für „Ratking“ („Entführung auf italienisch“). Im letzten Jahr folgte dann der Sonderpreis der englischen Crime Writer Association für „Vendetta“.

In Großbritannien ist Michael Dibdin anerkannt. Besprechungen in den Feuilletons sind die Regel, und mancher englische Kritiker hat längst zitierfähig gejubelt. „Die größte Entdeckung seit P.D. James“, heißt es nun auf dem Buchumschlag. Man kann es Michael Dibdin gönnen, er hebt den englischen Krimi zu neuen Höhen.

Michael Dibdin hatte zunächst andere Vorstellungen von seinem Werk. Da war die nicht ganz unbekannte romantische Idee, über das Leben, das Sein und das Universum zu schreiben. In einem Interview mit der Sunday Times gestand er frühe Werke, die nur von dieser Idee getragen waren und natürlich keine Chance hatten, je veröffentlicht zu werden. Das änderte sich, als er 1977, nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Kanada, wieder in London lebte. Ein kanadischer Freund besuchte ihn, und beim Sightseeing in Whitechapel, wo Jack the Ripper seine Opfer fand, fand Michael Dibdin seinen ersten Krimistoff.

Jack the Ripper und Sherlock Holmes begegnen sich. „The last Sherlock Holmes Story“, 1978 veröffentlicht, war eine konventionelle Spielerei mit dem Genre. Ein amüsanter literarischer Scherz zur Lektüre zwischendurch, dem für fünf Jahre kein weiteres Buch folgte.

In dieser Zeit zog es ihn nach Italien, wo er in Perugia an der Universität Englisch lehrte und seine zweite Frau kennenlernte. Anfang 1982 kehrten sie nach England zurück und zogen in einen Vorort von Oxford. Dann ein neues Manuskript. Nach zwei Jahren Arbeit fertiggestellt, wird es abgelehnt. Was nun? Nur für zwei Jahre hatte seine Frau die Familie finanzieren sollen. Zurück in den Lehrerberuf? Nein, denn nach einer letzten Überarbeitung wird „A Rich full Death“ (für den August als „Der Tod hält reiche Ernte“ bei Rowohlt angekündigt) doch noch veröffentlicht.

Wieder ist es ein Spiel mit Fiktion und historischer Wirklichkeit, in dem diesmal das Leben des Dichters Robert Browning durch eine Mordserie durcheinandergewirbelt wird. Noch bleibt die Aufmerksamkeit des Literaturbetriebs gering. Doch seit seiner Zeit in Perugia und der Lektüre einiger Maigret-Romane wollte Michael Dibdin Krimis mit einem italienischen Polizisten schreiben. Kommissar Aurelio Zen nahm Formen an, und der endgültige Durchbruch folgte 1987 mit „Ratking“.

Mittlerweile sind zwei Krimis mit Aurelio Zen erschienen, und für den Juli ist ein dritter angekündigt. Trotzdem gerät dieser Kommissar nicht zur statischen Figur einer Endloskrimiserie. Zum Lesegenuß werden die Romane gerade dadurch, daß ein facettenreiches Soziogramm Italiens mit der persönlichen Entwicklung Aurelio Zens verknüpft wird. Derzeit ist der Held um die 50 und geschieden. Er lebt mit seiner alten Mutter in einer zu kleinen Wohnung in Rom und ist auf der Suche nach Ruhe, wie Michael Dibdin sagt. Dauerhafte Beziehungen zu Frauen sind allerdings noch immer ein Problem.

In den Krimis mit Aurelio Zen zeigt Michael Dibdin ein Italien der Seilschaften, in dem Beziehungen den Alltag eines jeden regulieren: ein macht- und geldgeiles Herumwurschteln allerorten. Man intrigiert, sucht Rückendeckung von oben und übt Druck aus nach unten. Korrupt und kriminell aber ist erst der Überverbrecher, den man zur eigenen Beruhigung stets im Hintergrund vermutet. Er ist natürlich ein Phantasma.

Im „Rattenkönig“ findet Michael Dibdin ein Bild für eine solche Gesellschaft: Ein Rattenkönig entsteht, wenn zu viele Ratten auf zu engem Raum unter zuviel Streß zusammenleben. Ihre Schwänze verknoten sich und wachsen zu einem Gewebeklumpen zusammen; ein Wesen aus vielleicht dreißig Ratten entsteht. Irgendwie überleben sie, denn sie sind auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen.

Die andere Seite Michael Dibdins zeigt sich in „The Tryst“ („Der Mann im Schatten“). Hier mischt er Elemente des Psychothrillers mit denen des Schauerromans und verbindet sie mit krassen realistischen Szenen, die die ungeheure Armut im London des Thatcherismus zeigen. Bedrohung ist die Grundstimmung dieses Buches. In den Zen-Romanen gibt es am Ende zumindest ein bißchen Gerechtigkeit, wenn auch durch Zufall. Der Krimi-Leser wolle seinen emotionalen Einsatz zurück, sagte Michael Dibdin der Sunday Times. In „Der Mann im Schatten“ setzt er sich über dieses Bedürfnis planvoll hinweg und läßt alles im Dunkeln enden.

Der Sommer ist noch etwas hin. Bis dahin sollte man sich die drei bislang erschienenen Romane Michael Dibdins gut einteilen. Ralf Koss

Michael Dibdin: „Entführung auf italienisch“. Goldmann 1992, 352 S., 12,80 DM

Michael Dibdin: „Vendetta“. Goldmann 1993, 317 S., 12,80 DM

Michael Dibdin: „Der Mann im Schatten“. Rowohlt 1992, 189 S., 8,90 DM