piwik no script img

Später Sprung über den Bach

■ Gesichter der Großstadt: Ernestine Brüll (61), die einst ein Mann war und jetzt lesbische Feministin ist, hat das Frauenprojekt Angstverlust mitgegründet

Wann und wo sie das erste Mal vom Feminismus hörte, erinnert sie nicht: „Der Begriff war mir nicht mal als Vokabel bekannt.“ Auch ihre Erinnerung an die Zeit vor dem „ganz entscheidenden Knick versinkt ins Nichts“. Ähnlich einem „abgeschlossenen Aktenvorgang – den tuste ins Archiv. Und holst ihn nie wieder vor.“

Aufgewachsen im märkischen Rathenow – dem „sterbensdummen Nest an der Havel“ – ging Ernestine Brüll 1951 nach Thüringen, nach Jena. Ohne Schulabschlüsse und ohne Berufsausbildung wäre er beinahe Bibliothekar geworden, ist dann aber „zur Journalistik abgesprungen“. 1958 zog er wieder „ins preußische Rathenow“, und ab 1961 lebte er vor allem in Berlin. Ost, versteht sich.

Das war vor dem „Knick“. Damit wäre für Ernestine dieses Kapitel auch beendet, wären da nicht doch noch ein paar „lebendige Erinnerungen“. Beispielsweise an Robert Havemann, den er kannte und dessen Vorlesungen er besuchte, im 2. Chemischen Institut, in den Sechzigern: „Der ging als Naturwissenschaftler an theoretische Fragen des Marxismus heran und versetzte die ,Hauptabteilung Ewige Wahrheit‘ in helle Aufregung.“ Ernestine Brüll verstand nicht, warum sich die Partei mit dem Kommunisten Havemann (der mit Honecker unter den Nazis im Knast saß) „derart zickig hatte“. Sie hat erst „Jahre später verstanden, was das für ein Sprengstoff war“. Aber das hat sie „wach gemacht: Wenn du einmal anfängst, über einen bestimmten Punkt hinaus zu denken, hörst du nicht mehr auf.“

Vor dem endgültigen Rückzug ins Private arbeitete er bei Musiktheaterproduktionen mit, „weil ich in den Programmheften Dinge schreiben und zitieren konnte, die absolute Tabus waren“. Unter anderem bei der legendären West Side Story – Produktion in Erfurt: „Das haben wir auf kahler Bühne gemacht, die Mauer des Theaters als Hintergrund mit den Heizungsrohren und mit draufgesprühten amerikanischen Losungen. Und mit einem eisernen Vorhang.“

Aber das war vor „dem Knick“, vor dem „Sprung über den Bach“. Gefragt, was sie am „Geschwätz“ über Transsexualität am meisten ärgert, stellt sie zunächst den Begriff in Frage: „Der ist dumm gewählt, weil es nicht um Sexualität geht, sondern um den Sexus, das Geschlecht.“ Und weiter: Transsexuell „biste so lange, wie die kontroverse Entwicklung von körperlicher und psychischer Geschlechtsidentität manifest ist. Ein beschissener Zustand. Wie wenn zwei schlecht oder gar nicht isolierte Phasen nebeneinander laufen – die eine positiv und die andere negativ geladen. Was passiert? Es schmort. Wird die Spannung größer, gibt es einen Kurzschluß. Wenn de Pech hast, brennt das Haus ab. Da steht dann als Todesvermerk Suizid verzeichnet.“

Aber Ernestine verstand es, mit der Zeit die eigenen Zeichen zu verstehen. Und Zeichen gab es: selbstgeschriebene Erzählungen zum Beispiel, deren Ich-Gestalten Frauen sind.

Aber was sie „am meisten aufregt, ist, daß viele nicht befähigt sind, damit zielgerichtet umzugehen. Und die ganze Brühe zur Seite zu tun.“ Ernestine, achselzuckend: „Sollen sich die Mediziner einen Kopp drüber machen. Die haben das gelernt. Das ist im wesentlichen eine gynäkologische Therapie.“

Aber statt dessen seien „viele TS“ nicht konsequent: „Ich kenne Leute, die haben inklusive der Personenstandsänderung alles hinter sich gebracht.“ Aber „statt das Ding durchzuziehen, bezeichnen sie sich noch immer als TS und fühlen sich mißachtet. Die haben sich zwar dem selbsterlebten Geschlecht angepaßt. Den nächsten Schritt in die sozialen Zusammenhänge packen sie dann aber nicht mehr.“ Von der Theorie eines „dritten Geschlechts“ hält sie nichts. „Ich bin auch nicht bereit, eine TS-Subkultur zu züchten und die Leute damit über den Punkt hinaus, wo sie es sind, zu stigmatisieren.“ Transsexuell, so Ernestine, „biste nur, solange die Kontroverse besteht“. Das einzige: „Du bist danach noch körperbehindert, weil du lebenslang auf Hormon-Substitution angewiesen bist. Aber das sind andere auch.“

Ist der Körper erst mal dem selbsterlebten Geschlecht angepaßt, ändert sich einiges: „Einerseits die Körperfunktionen. Als Frau haste mehr Power. Durch eine rationellere Verbrennung.“ Aber auch die Emotionalität ändert sich: „Die ersten vier Wochen wußte ich nicht damit umzugehen. Ich fand das schön, aber: Was mach' ich damit? Meine Abwehrmechanismen gegen Mißeindrücke funktionierten nicht mehr. Abgeschaltet. Ich wußte vorher: Die Aggressivität wird herabgesetzt. Was ich nicht wußte, war, daß meine Agressivität ins Intellektuelle sublimiert war. Und da funktionierte nichts mehr. Nach weiteren zwei Wochen fehlte mir dann aber schon die Erinnerung daran, wie es früher war.“ Der „entscheidende Einschnitt“ aber ist die „soziale Befindlichkeit“.

Der Sprung über den Bach kam bei Ernestine sehr spät: „Das war ein DDR-Schaden“, meint sie. „Ich wußte lange Zeit von dem Phänomen TS nichts.“ Dieses Unwissen machte Ernestine zum „Dauerpsychopat mit schweren und schwersten Phobien, Neurosen und und und.“ Da ging viel Energie bei drauf: „Es stinkt, es schmort, es schmort, es stinkt.“ Bis zum Begreifen „dachte ich, ich habe ne Hacke weg“. Auch zwei stationäre Psychiatrie-Aufenthalte gehörten zu den Folgen des Unwissens.

Als sie es begriff, war sie über 50: „Das war nicht der einzige, aber einer der Gründe dafür, die DDR verlassen zu wollen.“ Sie erfuhr unter der Hand von verpfuschten Operationen in Ost-Berlin und hörte Berichte über Transsexuelle, die statt des gewünschten ein entgegengesetztes Hormonpräparat bekamen, weil sie „wieder auf den rechten Weg gebracht werden sollten“.

Gemeinsam „mit einer in allen schwierigen Lebenslagen erprobten Freundin“ stellte Ernestine einen Ausreiseantrag – um dies tun zu können, mußten sie vorher heiraten. Aber sie warteten eine Ausreisegenehmigung nicht ab, sondern flohen im August 89 via Ungarn nach Süddeutschland.

Die „biologische Metamorphose“ liegt nun hinter ihr, und damit „auch das Thema Transsexualität“. An einer Personenstandsänderung ist sie kaum interessiert: „Mir ist egal, was in meinem Paß steht. Ich habe auch zu den Konditionen, die der Gesetzgeber anbietet, keine Lust dazu.“ Ein halbes Jahr von zwei Psychologen begutachtet werden, Fragebögen ausfüllen, deren Schlüssel sie nicht kennt, ein paar tausend Mark bezahlen: „Da geh' ich zur Tagesordnung über.“ Fertig. Da spricht die „staatliche Vormundschaft ablehnende Feministin“.

Vor einem guten Jahr kehrte Ernestine nach Berlin zurück und begann mit ihrer „Ehefrau“ Ines, beim Förderverein für ein Schwulen- und Lesbenhaus den Bereich „Gewalt gegen Frauen“ aufzubauen. Denn „die neue Befindlichkeit des Frauseins bewirkte auch emotional ein frauenemanzipatorisches Engagement“. Gemeinsam mit weiteren engagierten Frauen gründete sie Anfang März einen Förderverein für ein stadtbezirksübergreifendes Frauen- und Lesbenzentrum, der den programmatischen Namen „Angstverlust“ trägt.

Der Aufbau einer Selbstfindungs- und Selbstverteidigungsgruppe, Vernetzung und Kooperation mit anderen Frauenprojekten, Veranstaltungen zum Thema Gewalt gegen Frauen und Kinder – all das sind laufende, derzeit ehrenamtliche Aktivitäten des Vereins, der in der Christinenstraße 23, Prenzlauer Berg, seit kurzem ein Büro hat. Auch Videoproduktionen sind in Arbeit, darunter ein Film über und mit Ernestine: „Ist Frausein mehr?“ Der Aufbau eines Lesben- und Frauenzentrums ist geplant.

„Genau besehen, bin ich eine Frau ohne Vergangenheit.“ Zuversichtlich fügt sie hinzu: „Aber mit Zukunft. Meine ,Gutachten‘ bekomme ich täglich von anderen Frauen, die mich förmlich in die Arbeit reingezogen haben.“ Jean Jacques Soukup

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen