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Schwärmerei, landesüblich

■ J.-B. Pontalis denkt über seinen Beruf nach

Die großen Fragen, die großen Antworten – da geht nichts drüber. Das läßt Samuel Beckett eine seiner Figuren konstatieren, und das muß sich auch der Pariser Psychoanalytiker und Philosophieprofessor J.-B. Pontalis gedacht haben, als er seinen Essay „Die Macht der Anziehung“ verfaßte. Schluß mit dem schulmeisternden Referat, muß er sich gesagt haben (wie in dem bekannten, immer noch nützlichen Nachschlagewerk „Vokabular der Psychoanalyse“, das er in den sechziger Jahren zusammen mit J. Laplanche verfaßt hatte). Jetzt probiert Pontalis die Ehrenrettung der Seelenwissenschaft mit Blick auf die Poetik.

In drei Kapiteln zu den Themen „Traum“, „Übertragung“ und „Wörter“ kann man bröckchenweise Elogen und Entgegnungen herauslesen, die sich grob folgenden zwei Ansichten zuordnen lassen: Einerseits ist die Psychoanalyse schlecht, andererseits phantastisch. Schlecht, weil sie die Poesie unserer Träume mittels Deutung entmystifiziere; phantastisch, weil zwischen Analysand und Analytiker so herrlich aufregende Dinge passieren (Übertragung!). Banal und wahr: Vor- und Nachteile lassen sich überall finden. Pontalis' Elogen gelten dem „Zustand“, den „Intensitäten“, der „Erregung“, dem „Träumenwollen um des Träumens willen“.

Als Gewährsmann dient ihm Paul Valéry, der allmorgendlich Zigarette rauchend seine Träume in unzählige Hefte notierte. Obwohl Valéry ähnliche unbewußte Mechanismen benennt wie Sigmund Freud, ist der besessene Frühaufsteher, was die Behandlung der Träume betrifft, entschieden anderer Meinung als der rauchende Wiener, nämlich: Man solle sie nicht deuten. Ist der Traumdeuter Freud für Pontalis also passé? Nicht ganz, denn er freut sich, feststellen zu können, Freud habe die Neurose seines berühmten Patienten, des Rattenmanns, als „großartiges Kunstwerk“ erkannt.

Auf die leichte Schulter nimmt Pontalis sein Verhältnis zu dem Entdecker des Unbewußten nicht. Es scheint, als werde er mit dessen Überzeugung von der „Überlegenheit der Geistigkeit gegenüber der Sinnlichkeit“ nicht recht fertig. Dabei gelingt Pontalis ausgerechnet über Freud die einzige glasklare Sentenz. Ein „niemals dementiertes Vertrauen“ in die Sprache habe Freud gezeigt, „selbst nach der Anerkennung der dämonischen Macht des Todestriebs ändert sich daran nichts“. Tatsächlich hat Pontalis damit Freuds Ethik im Kern getroffen: Es ist eine Ethik der Vermittlung. Freud: „Ich tat alles, um den anderen zugänglich zu machen, was ich wußte und erfahren hatte.“

Pontalis hat daraus keine Schlüsse gezogen. Obwohl er die „Graphomanie“ der Franzosen, ihre Überschätzung des Schreibens, treffsicher bewitzelt, kann er sich nicht enthalten, diese ebenfalls in landesüblicher Schwärmerei darzubieten: „Es lebe die Polysemie und die Instabilität der Worte der allgemeinen Sprache!“ Leser und Leserin bleibt es überlassen, darüber zu sinnieren, warum ausgerechnet Mehrdeutigkeit so großartig sein soll.

Ina Hartwig

J.-B. Pontalis: „Die Macht der Anziehung – Psychoanalyse des Traums, der Übertragung und der Wörter“. Aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek. Fischer Wissenschaft, Frankfurt am Main 1992, 93 Seiten, 14,80 Mark

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