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Die NS-Zentralakte „Homos“ sollte der „Bekämpfung einer Volksseuche“ dienen

Der Kampf der Nationalsozialisten gegen Homosexualität: Schwule wurden vom NS-Regime systematisch verfolgt / Nazi-Studie: „Alles, was unser Volk entmannt, lehnen wir ab“ / Bei der Entschädigung für erlittene KZ-Inhaftierungen und Qualen gehen die Betroffenen bis heute leer aus / 80.000 schwule Opfer der Nazis, nur 23 Anträge auf Entschädigung  ■ Von Antje Vollmer

Geheim! Streng vertraulich! Nur für den Dienstgebrauch!“ steht auf jedem einzelnen Dokument eines Ordners, den Rudi Finkler zufällig im Freiburger Militärarchiv entdeckte. Lange Zeit war auch von Historikern bestritten worden, daß es eine politische Verfolgung von Homosexuellen im Dritten Reich gegeben hatte. Jetzt hielt Rudi Finkler die Beweisstücke in der Hand, daß es sich bei der Schwulen-Hatz um eine systematische Verfolgung aus bevölkerungspolitischen Gründen gehandelt hat. Diese Zentralakte, verborgen im Bestand „Heeressanitätswesen“ und mit dem Kürzel „Homos“ beschriftet, enthält alle geheimen Dokumente des NS-Regimes zur Verfolgung der Homosexuellen.

Die Nationalsozialisten hatten, spätestens seit den Affairen um den 1934 von Hitler ermordeten schwulen SA-Führer Ernst Röhm – von den Nazis wurde der Mord als „Röhm-Putsch“ umgedeutet und gerechtfertigt –, ein besonderes zwanghaftes Interesse am Thema Homosexualität. Bis heute merkt man der Akte „Homos“ die Lüsternheit der Verfolger und ihren pornographischen Schauder an.

Das erste Dokument ist der zentrale Geheimerlaß des Reichsführers der SS, Heinrich Himmler. Er stammt vom 10. Oktober 1936 und ist von Reinhard Heydrich unterschrieben, damals Chef der Sicherheitspolizei. Da heißt es: „Die erhebliche Gefährdung der Bevölkerungspolitik und der Volksgesundheit durch die auch heute noch verhältnismäßig hohe Zahl von Abtreibungen, die einen schweren Verstoß gegen die weltanschaulichen Grundsätze des Nationalsozialismus darstellen, sowie die homosexuelle Betätigung einer nicht unerheblichen Schicht der Bevölkerung, in der eine der größten Gefahren für die Jugend liegt, erfordert mehr als bisher eine wirksame Bekämpfung dieser Volksseuchen.“

Zur Verfolgung beider „Seuchen“ wurde mit diesem Erlaß eine „Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und der Abtreibung“ und ein Sonderreferat bei der Gestapo eingerichtet.

Ab sofort mußten alle Anzeigen wegen Abtreibung und Homosexualität an diese Zentrale gemeldet werden. Dabei galt die folgende aufschlußreicher Reihenfolge: 1) „Wenn der Täter der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen angehört oder eine führende Stellung einnimmt“, 2) „wenn der Täter der Wehrmacht angehört“, 3) „wenn der Täter Mitglied einer Ordensgemeinschaft ist“, 4) „wenn der Täter im Beamtenverhältnis steht“, 5) „wenn der Täter Jude ist“, 6) „wenn es sich um Personen handelt, die in der Zeit vor der Machtergreifung eine führende Stelle innehatten“.

Wer einmal in dieser Kartei erfaßt war, für den gab es kein Entrinnen mehr. So führte die Reichszentrale eine „Reichskartei für Abtreiber und Strichjungen“ mit genauen Personalien, Lichtbild und Wohnwechselvermerk. In der Akte ist auch eine solche „namentliche Liste wehrpflichtiger Strichjungen und homosexueller Jugendverführer“ abgeheftet.

Neben der eigenen Partei, die von der Nazis als besonders von „Zersetzung“ bedroht eingestuft wurde, galt ihre besondere Aufmerksamkeit der Wehrmacht als möglicher „Brutstätte“ des Lasters Homosexualität.

Grausamste Details werden in der Aktensammlung angeführt, Versuche zur Entmannung von Schwulen oder Experimente zur Einpflanzung einer künstlichen Drüse, die die sexuelle Orientierung umsteuern sollte. Angeheftet ist auch ein Gesetzentwurf vom 4. Juli 1943 „über die Behandlung Gemeinschaftsfremder“, in dem folgende Gruppen von „Volksschädlingen“ als verfolgungswürdig aufgelistet werden: „Versager“, „Schmarotzer“, „Taugenichtse“, „Störenfriede“ und „Neigungsverbrecher“.

Kein Jugendführer des Dritten Reiches kam um die Lektüre der „Sonderrichtlinien der Bekämpfung gleichgeschlechtlicher Verfehlungen“ herum, die von der „Reichsarbeitsgemeinschaft für Jugendbetreuung“ verfaßt worden waren – immerhin 38 eng beschriebene Schreibmaschinenseiten, die „im Selbstunterricht“ zu lesen waren und ebenfalls im Ordner „Homos“ abgeheftet sind. Die Lektüre der „Sonderrichtlinien“ mußte namentlich quittiert werden, darüber reden durften die Pimpfe bei Strafe nicht.

So saßen des Führers Adolf Hitler auserwählte Unter- und Jugendführer da mit hochroten Ohren, und studierten andächtig und im Geheimen das Motto der Studie: „Wer an mannmännliche oder weibweibliche Liebe denkt, ist unser Feind. Alles, was unser Volk entmannt, zum Spielball seiner Feinde macht, lehnen wir ab, denn wir wissen, daß Leben Kampf ist und Wahnsinn, zu denken, die Menschen lägen sich einst brüderlich in den Armen. ... Wir verwerfen jede Unzucht, vor allem die mannmännliche Liebe, weil sie uns der letzten Möglichkeiten beraubt, jemals unser Volk von den Sklavenketten zu befreien, unter denen es front.“

Schwülstig wie der Anfang ist die ganze Schrift, und komisch verklemmt dazu. „Schon einfache Berührungen, Umarmungen oder Küsse, erst recht jedoch Züchtigungen und Quälereien sind ,Unzucht‘ im Sinne des Reichsstrafgesetzbuches und daher strafbar, wenn sie in wollüstiger Absicht vorgenommen werden“, heißt es in dem Papier.

Gedroht wird in der Schrift sowohl mit der „Todesstrafe für Sittlichkeitsverbrecher“ wie mit der Hörigkeit und der Erpreßbarkeit von Homosexuellen. Denn: „Der Homosexuelle neigt zur Cliquenbildung mit seinesgleichen“, die „stärker ist als Treueverpflichtungen gegenüber Volk, Staat und Familie. Wenn sich auf dieser Grundlage ein politischer Machtanspruch entwickelt, so wird der Homosexuelle auch zum politischen Staatsfeind.“

Wer all diese greulichen, hochnotpeinlichen Gefahren vermeiden will, was soll er tun? Die Richtlinie empfiehlt da „Sport und abhärtende Körperpflege“, Vermeidung von zu viel Eiweiß in der Nahrung, auch „übermäßiger Kochsalzverbrauch sowie scharfe ausländische Gewürze (Pfeffer!) rufen Durchblutungssteigerung und Reizerscheinungen an den Ausscheidungsorganen [!] hervor.“

Vor allem sind „Ritterlichkeit und Achtung vor dem Mädel als der Kameradin in der Jugendgemeinschaft und als der zukünftigen Frau und Mutter den Jungen einzuprägen. Die Ehre jedes Mädels soll ihnen genauso hoch stehen wie die der eigenen Schwester und Mutter“. So wird er denn treffsicher auf die richtigen sittsamen Bahnen gelenkt, der irrlichternde Sexualtrieb der Jungen.

Die Richtlinie enthielt nicht nur eigenartige Männerphantasien, sondern eine lebensgefährliche Aufforderung zur umfassenden Denunziation: Jeder sollte jeden anzeigen, an dem auch nur die klitzekleinste Unzucht ausgemacht werden könnte – und zwar gleich direkt bei der Gestapo. Ganze katholische Jugendgruppen gerieten so – denunziert von übereifrigen deutschen Sittenwächtern – wegen alberner Jungenspäße vor den Kadi.

So wurden etwa im frisch eingedeutschten Saarland ganze Dorfjugenden denunziert. In einem Bericht vom 25. Mai 1936 an den Generalstaatsanwalt im rheinischen Köln heißt es etwa: „Die Staatspolizeistelle Saarbrücken hat hier eine Anzeige gegen 37 Jugendliche aus Keuchingen und Mettlach wegen widernatürlicher Unzucht vorgelegt. Sämtliche Beschuldigte, von denen drei inzwischen 16 Jahre alt geworden und drei jetzt noch nicht 14 Jahre alt sind, gehören der Hitlerjugend an.“

Im selben Jahr fand in Saarbrücken ein weiterer Massenprozeß gegen 37 Jugendliche im Alter von 13 bis 20 Jahren statt und ein dritter gegen 27 Jugendliche, von denen keiner 18 Jahre alt war. Allein in diesem Prozeß wurden 20 Kinder zu Gefängnisstrafen auf Bewährung verurteilt.

Allein zwischen 1937 und 1939 wurden 24.450 Homosexuelle zu Gefängnis und Zuchthausstrafen verurteilt. Die Schwulen im KZ waren besonders erniedrigenden Schikanen ausgesetzt – nicht nur von seiten ihrer Aufseher. Vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, daß bis zum Kriegsende etwa 80.000 Homosexuelle Opfer nationalsozialistischer Verfolgung wurden.

Seit nunmehr zehn Jahren bemühten sich die Grünen und auch die Sozialdemokraten um die Anerkennung verfolgter Homosexueller als Opfer des NS-Regimes. In einer offiziellen Antwort der Bundesregierung hieß es zu diesen Bemühungen in der Drucksache 10/6287: „Die Bestrafung homosexueller Betätigung in einem nach den strafrechtlichen Vorschriften durchgeführten Strafverfahren ist weder NS-Unrecht noch rechtsstaatswidrig.“

Und überhaupt: Nur 23 Homosexuelle hätten einen Antrag auf Entschädigung gestellt, bei einem erneuten Aufklärungversuch der Behörde nur weitere neun sich gemeldet. „Dies läßt vermuten, daß die Betroffenen andere, nicht im strafrechtlichen Bereich liegende Gründe hatten, weshalb sie sich niemals gemeldet haben oder daß der Kreis der durch KZ-Haft betroffenen Homosexuellen wesentlich kleiner ist, als bisher angenommen wird“, heißt es in der Antwort der Bundesregierung. So einfach ist das: keine Anträge, keine Aktennotiz, keine Taten, keine Opfer.

Antje Vollmer ist Mitautorin des Buches: „Rosa Winkel/Rosa Listen“, Rowohlt 1981

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