: Musik am eigenen Leib erfahren
■ Tagung der „projektgruppe neue musik“ bei Rabus: Für eine andere Wahrnehmung
Konzerte der sogenannten Neuen Musik hört man am besten mit einem Adorno unterm Arm, und seinen Körper braucht man dabei eigentlich nur, um Kopf und Ohren in den Konzertsaal zu transportieren. Das ist jedenfalls ein verbreitetes Vorurteil über die neue, „ernste“ Musik der letzten 50 Jahre. Ein Vorurteil, an dem die MacherInnen dieser Musik in den 50er und 60er Jahren mit ihrer seriellen, eher mathematischen Musik kräftig mitgewirkt haben. Seit einigen Jahren hat sich das geändert: Körperlichkeit ist mehr und mehr zum Thema neuer und neuester Kompositionen geworden: sei es im Kompositionsprinzip als Element der Aufführung oder aber als bewußte Wahrnehmung mit dem ganzen Körper.
Konkret bedeutete das 1968 für den Komponisten Helmut Lachenmann zum Beispiel, den Atem zum musikalischen Material seines Stückes temA zu machen: Flöte, Violoncello und rein instrumental verstandene Stimme ahmen nicht den Rhythmus, sondern die Klänge des Atmens nach. Giacinto Scelsi wiederum lädt zu einer Veränderung der Wahrnehmung: seine Canti di Capricorno (1962-72) für eine Solostimme haben nur einen Ton zum Thema, der in seiner Klangfarbe verändert wird.
Vor einem Jahr hatte die Bremer „projektgruppe neue musik“ (pgnm) zu einer Tagung eingeladen, in der es um „Das Eigene und das Fremde“ ging — und am Ende der Gespräche mit den meist außereuropäischen KomponistInnen stand die Frage, was uns denn in unserem eigenen Leben fremd ist. Als Konsequenz daraus thematisiert die Projektgruppe die Körperlichkeit in der Neuen Musik. „Am eigenen Leib — für eine andere Wahrnehmung“ heißt die diesjährige Tagung, die am Wochenende in der Galerie Rabus stattfinden wird (Termine siehe Kasten).
Das in den vergangenen zwei Jahren bewährte Prinzip wird beibehalten: In drei Konzerten werden Stücke vorgestellt, die dann diskutiert werden — in Anwesenheit der MusikerInnen (vom ensemble recherche u. a.). Die können jederzeit zum Instrument greifen und als TeilnehmerInnen auf dem Podium ihre Wahrnehmungen beisteuern. Ferner werden drei KomponistInnen über ihre Musik diskutieren: Malcolm Goldstein, Helmut Lachemann und Younghi Pagh-Paan.
Da aber die Musik nun mal nicht im freien Raum, sondern in konkreten gesellschaftlichen Bezügen exstiert, hat die pgnm außerdem noch Musikwissenschaftler (Max Nyffeler und Jürg Stenzl), den Philosophieprofessor Gernot Böhme und Eveline Goodmann-Thau als Expertin für jüdische Philosophie eingeladen. Leider wird der Tagung ein wesentlicher Apekt von Neuer Musik und Körperlichkeit fehlen: die VeranstalterInnen konnten sich nicht entschließen, den Bereich Perfomance-Kunst ins Programm aufzunehmen.
Den ZuhörerInnen ist natürlich nicht nur die Rolle von Köpfen mit Ohren zugedacht: am eigenen Leib wahrnehmen und mitreden ist ausdrücklich erwünscht. Wilfried Wiemer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen