Tango als Entwicklungshilfe

■ Im "Estudio Sudamericana" wird der Originaltango vom Gebiet des Rio de la Plata gelehrt / Jeder soll seinen persönlichen Ausdruck finden

„Wie diese Engeln sich nur schlängeln und schmiegen Bein an Bein“, dichtete Georg Kreisler in den fünfziger Jahren – „ein jeder Schritt muß bei dem Rhythmus ein Vergnügen sein.“ Ist er auch, und deshalb erfreut sich der Tango wachsender Beliebtheit. Nicht weniger als zwanzig Paare drängeln sich an der Anmeldung zum Tango-Einführungskurs im „Estudio Sudamericana“ an der Brunnenstraße. „Werden wir auch nicht rausgeschmissen, wenn wir völlig unbegabt sind?“ erkundigt sich der Medizinstudent Matthias vorsichtshalber, bevor er die Kursgebühr von 120 Mark über die Theke schiebt. „Keine Angst, du kannst sechzigmal hingehen“, beruhigt ihn die Tanzlehrerin.

Zwei Monate lang können die Schüler so oft kommen, wie sie wollen. Viermal pro Woche steht Tango auf dem Plan, an den übrigen Tagen gibt es Kurse im flotten Salsa und in Merengue – laut Ankündigung „geschmeidiges Umgarnen, hauteng und heiß“. Der kleine Nachteil der Termin-Freiheit sind die Wiederholungen. Außer dem Grundschritt werden im Einführungskurs nur drei Tanzfiguren gelehrt. Und schon zum zweitenmal in dieser Woche formuliert die Lehrerin den Standardsatz: „Beim Tango bestimmt der Mann, das hat nichts mit europäischer Emanzipation zu tun.“

Dem Gründer der Schule, Juan Dietrich Lange, fehlt es nicht an Sendungsbewußtsein: „Ich empfinde mich als Entwicklungshelfer.“ Zehn Jahre schon vermittelt der Tanzlehrer, der in Uruguay aufgewachsen ist, „verklemmten, steifen Mitteleuropäern“ lateinamerikanische Bewegungsfreude. Den originalen Tango aus dem Gebiet des Rio de la Plata habe das „Estudio Sudamericana“ als erste Tanzschule in ganz Deutschland gelehrt, betont Lange. Daß er soviel Wert auf Authentizität legt, hängt mit seinem Ethnologiestudium zusammen: Tango war das Thema seiner Examensarbeit. „Dann habe ich das Studium an den Nagel gehängt und die Tanzschule eröffnet.“

Deutlich grenzt sich Lange von jenem Tango ab, den der Allgemeine Deutsche Tanzlehrer-Verband (ADTV) definiert hat. „Daß die lateinamerikanischen Tänze schematisiert und bis in die letzte Form festgelegt worden sind, ist eine Dreistheit“, findet er. „Für mich ist das eine Form von Kolonialisierung.“ Langes Schüler sollen statt dessen „lateinamerikanisch“ tanzen lernen: „Es kommt darauf an, daß jeder seinen persönlichen Ausdruck hat, daß niemand dressiert wird.“

Außer Tango, Salsa und Merengue bietet das „Estudio Sudamericana“ auch Rumba und Cha-Cha- Cha an. Außerdem kann man hier Tänze lernen, die in Europa nur wenig bekannt sind – Milonga zum Beispiel (die Urform des Tango), Bolero, Cumbia und Son Cubano. Zum Teil werden die exotischeren Tänze als Workshop angeboten, denn die meisten Schüler begeistern sich eher für Tango oder Salsa. „Salsa ist so beschwingt, da steckt soviel Lebensfreude drin“, schwärmt die Zahntechnikerin Carola Hayduk, die inzwischen schon den zweiten Fortsetzungskurs mitmacht.

Juan Dietrich Lange hat für seine Tanzkurse eine eigene Pädagogik entwickelt, die gestalt- und bewegungstherapeutische Elemente enthält. Seit Gründung der Schule hat er schon 120 Tanzlehrer in seiner Methode ausgebildet. Danach lernen die Schüler manche Rhythmen beispielsweise durch Klatschübungen. Außerdem würden ihnen ihre Hemmungen bewußt gemacht, erklärt Lange: „Wenn eine Frau zum Beispiel beim Tanzen den Hintern zurückbiegt, will sie den Kontakt zum Mann vermeiden.“ Gerade Paare, die sich erst im Tanzkurs kennenlernen – etwa ein Drittel der Schüler –, scheuen zunächst den Körperkontakt. Seine Anfangshemmungen habe er trotzdem rasch überwunden, erzählt der Industriedesigner Roland Dengel: „Schließlich lernt man sich doch sehr schnell kennen. Man ist ja nah genug beieinander.“ Miriam Hoffmeyer