piwik no script img

Hunni will Strümpfe

■ "Berlin 2000": Obdachlose spielen im Keller Theater

Im Untergrund erscheint der düstere Götterbote. In schwarzes Leder gehüllt, der Schnurrbart im Kerzenschein zitternd, steht er am Eingang zum Hades. Stolz und bedrohlich. Zu den magischen Klängen der „Carmina burana“ steigt er hinab, würdig, weihevoll, ein wenig schwankend. Ein beißender Geruch von Schweiß, Schmutz und Alkohol beengt das dumpfe Kellerloch, in dem „die Ratten“ auf ihn warten.

„Die Ratten“, das sind Jumbo und Hunni, Jürgen und Andy. Sie leben und spielen in diesem roh gemauerten Kellerraum. Letztes Jahr hatte der schottische Regisseur Jeremy Weller sie in Obdachlosenunterkünften und Wärmestuben aufgespürt und auf die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz gestellt.

Nachdem die „Pest“ aufgeführt, Wellers Interesse an seinen Laiendarstellern erlahmt war, beschlossen diese, nun ihr eigenes Theater zu spielen. Sie gaben sich selber den Namen „Ratten“. Mit Hilfe der Volksbühne fanden sie den Keller in der Mulackstraße 22 als Bühne und Unterkunft.

Wellers Regieassistent Roland Brus übernahm die Regie des nun schon zweiten Stückes der Gruppe mit dem Titel „Berlin 2000“. Zusammengesetzt aus literarischen Zitaten, selbstgedichteten Liedern, Splittern aus dem Leben unter der Brücke, improvisierten Szenen zum Thema Olympia.

Nachdem der Götterbote das olympische Feuer in die Finsternis getragen hat, nimmt die Farce ihren unerbittlich platten Lauf. Radler und Langläufer, Sprinter und Schwimmer (Andy genießt sichtlich seine Rolle mit Schwimmflossen und Taucherbrille) sporteln ziellos auf der Bühne herum. Zwischen ihnen Anna Speer, Regieassistentin, Nutte und Madonna der Gegengewalt. Die Olympiaszenen wirken aufgesetzt, als habe man den Obdachlosen eine Idee übergestülpt, sie zum Werkzeug politischer Auseinandersetzung werden lassen.

Einzelne Passagen berühren die Zuschauer wirklich: Leise, nachdenklich, langsam spricht Jumbo ein lyrisches Fragment: „Mein Kopf ist ein Tanzsaal. Verwelkte Rosen auf dem Boden. Die zerbrochene Gitarre in der Ecke. Die letzten Tänzer haben die Masken abgenommen und sehen einander mit todmüden Augen an.“ So behutsam setzt er die Worte, als sei das sein eigener Text, eine Metapher seiner eigenen Geschichte.

Der Regisseur führt seine Spieler dann und wann mit kurzen Zurufen, wenn sie abzuschweifen drohen. „Mach mal mit dem Text weiter.“ Andy hat Verständnis für ihn: „Is Mist, wenn's nicht funktioniert“, sagt er ein wenig schelmisch, ein wenig reuig, als die Inszenierung aus dem Ruder zu laufen beginnt. Je länger das Stück dauert, desto planloser, unkonzentrierter wirken die Beteiligten.

Das Gelächter, mit dem das auf wenigen Bänken in den Keller eingepferchte Publikum jede Alberei der Darsteller begleitet, erstarrt, als es zur Sache geht. Hunni, mit bloßen, schmutzigen Füßen, will Socken haben. Sitzt vor der ersten Reihe auf dem Boden zu Füßen der gutbürgerlichen, sauber gewaschenen Herrschaften, die sich sittsam auf den Bänken aufgereiht haben, und will Socken. Von irgendeinem. Verlegenes Kichern. „Na, du wirst doch wohl 'nem armen Penner deine Strümpfe geben!“ – Ausweichende Sprüche. Hunni greift zur Selbsthilfe, zieht dem Studenten vor ihm die Strümpfe aus und sich selber an. Wenig später sprechen die Darsteller einzelne Zuschauer an. „Was machst du denn so beruflich? Du, da hinten, dich mit dem Bart meine ich!“ – „Muß ich wirklich antworten?“ – „Sage ich nicht.“ – „Ich arbeite von acht bis fünf“, weichen sie aus, die Zuschauer, die Voyeure, die Neugierigen. Peinlich berührt. Sie haben Angst vor der direkten Konfrontation mit „den Ratten“. Die die Grenzen der Privatsphäre ungefragt überschreiten. Uta von Arnim

Weitere Vorstellungen: Bis Ende Mai, jeden Freitag um 20 Uhr in der Mulackstr. 22, Mitte.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen