: "Es riecht nach Zoff"
■ Für die Kreuzberger steht fest: Am 1. Mai gibt's in SO 36 wieder Krawall / Getränkeverkäufer freuen sich auf die schnelle Mark
Kreuzberg. Olympia ist noch fern, aber Kreuzberg feiert ohnehin seine eigenen Spiele: Am 1.Mai ist es mal wieder soweit. Die einen freuen sich schon wie die Schneekönige, die anderen fluchen wie die Müllkutscher, aber eins ist für alle so sicher wie das Amen in der Kirche: Kommenden Samstag wird es im Herzen von SO 36 wieder einmal krachen. Egal, ob Frau oder Mann, jung oder alt, berufstätig oder arbeitslos, Passantin oder Geschäftsinhaber, für alle, wirklich alle, die die taz gestern rund um den Görlitzer Bahnhof um eine Prognose bat, war der Fall völlig klar: „Na logisch gibt's Krawall.“
Die Randale auf der „Spielwiese“ Lausitzer Platz, Wiener und Oranienstraße nimmt damit voraussichtlich zum siebten Mal ihren Lauf. Was am 1. Mai 1987 begann und als Aufstand der Unterdrückten in die Annalen einging – erst wurde „Bolle“ von Kind und Kegel geplündert und dann bis auf die Grundmauern abgefackelt –, ist längst zum entpolitisierten Ritual verkommen. Auch für den kommenden Samstag gilt: Das Wetter ist gut, die Stimmung prima. Und der Funke für die Initialzündung zum Krawall fliegt gewiß. Sei es nun, daß die Polizei den Anstoß gibt oder die allseits bereiten Kids– oder auch manche Ältere sind dafür durchaus zu haben.
„Für die Jugendlichen hier ist das doch ein Jahrestag“, erzählt ein 25jähriger Türke, der bis zu seiner Anstellung als Versicherungskaufmann vor drei Jahren an jedem 1.Mai mit dabei war. „Damals stand ich mit meinem Kumpel vor Bolle. Er hat mit einem Stein das B eingeschmissen und ich das O. Das haben andere gesehen und es nachgemacht. Danach ging's richtig los.“ Inzwischen gehe er nur noch, um zu „gucken“ und um Getränke an die Schaulustigen zu verkaufen, versichert er. Letztes Jahr habe er in einer Stunde hundert Büchsen Bier und Cola umgesetzt und dabei gut verdient. Dieses Mal hätten seine kleinen Brüder 300 Büchsen Cola besorgt: „Bier deshalb nicht, weil sich die Leute sonst nicht mehr unter Kontrolle haben“, gibt er sich besonnen. Spätestens um 17 Uhr, so ist er sich sicher, „geht's am Samstag richtig los“.
Ein schwarzgekleideter Mann mit Walkman, der auf der Wiener Straße im Takt der Musik mitwippt, klatscht vor Freude in die Hände: „Natürlich gibt's Zoff – und ich bin dabei.“ Schließlich sei er HIV-positiv und suche schon seit Jahren vergebens eine Wohnung. Eine 60jährige gehbehinderte Rentnerin, Kundin am Imbißstand, findet, daß es am Samstag für „die Bullen“ nur eine Strategie gegen „die Chaoten“ gibt: „Knüppel raus und ordentlich druff“. Auch der Betreiber des Computerladens in der Wiener Straße ist felsenfest davon überzeugt, daß es am Samstag auf der Straße wieder abgeht. Obwohl sein eigener Laden im vergangenen Jahr geplündert wurde – Schaden: 470.000 Mark –, zeigt er Verständnis: „Die Politik hat sich doch überhaupt nicht geändert.“
Einige Meter weiter in der Oranienstraße meint ein 27jähriger mit schwarzem Tuch um den Kopf lachend: „Es riecht förmlich danach. Wir müssen doch unseren guten Ruf als Hauptstadt bewahren.“ Selbst den Verkäufer im Zeitungsladen am randalestrapazierten Lausitzer Platz läßt das Thema völlig cool: „Daß es Krawall gibt, steht so fest wie der 1. Mai.“ Plutonia Plarre
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