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Sanftes Tourismusprojekt vor dem K.o.?

Wenige Wanderer begehen die Ostroute der „Grande Traversata delle Alpi“ im Piemont  ■ Von Gerhard Fitzthum

Da gibt es mal ein wirklich vorbildliches Projekt des „sanften“ Tourismus – und dann droht es schon nach wenigen Jahren zu scheitern. Die Rede ist von der Grande Traversata delle Alpi (GTA), einem alpinen Fernwanderweg, der den gesamten Westalpenbogen durchquert und seine Täler miteinander verbindet. Zwar ist das Projekt im italienischen Piemont nicht in Gänze gefährdet; doch genau auf den besonders „sanften“ Teilstücken ist es bedroht. Die Wege führen hier nicht durch ökologisch labile Hochgebirgslandschaften, sondern durch den okzitanischen Kulturraum mit alten halb verlassenen Bauerndörfern und sich selbst überlassenen Eßkastanienwäldern, über alte Steinbogenbrücken und entlang zuwuchernder Ackerterrassen. Neubauten von Hotels und Hütten sind auf diesem Streckenabschnitt nicht erforderlich.

Die GTA ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert: Man übernachtet nicht in der Höhe, sondern in den Talorten. Schul- und Bauernhäuser, funktionslos geworden und zu einfachen Matratzenlagern umgestaltet, dienen als Unterkunft. Bei den Einheimischen, die die Häuser betreuen, holt man sich den Schlüssel. Alles ist noch urtümlich, vom Tourismus unerschlossen – und verlassen. Der Wanderer bewegt sich zumeist auf alten Verbindungswegen, auf Saumpfaden und Karrenwegen, und trifft so gut wie keine anderen Fremden unterwegs. Er trifft nur auf die wenigen Menschen, meist Alte, die in den letzten Talorten verblieben sind. Sie leben und arbeiten zuweilen noch wie vor 100 Jahren. Die Zahl der Bewohner hat in manchen Tälern seit 1860 von 1.000 auf 150 bis 200 abgenommen. Die Atmosphäre ist manchmal gespenstisch. Daß frischer Teer, Ferienwohnungen und Neubauten nur selten sind, bestärkt diesen Eindruck.

Was sich für Zivilisationsgeschädigte wie ein Reisebericht aus Utopia liest, ist für die dort oben Alleingelassenen ein Jammertal. An ihnen ist die Geschichte vorbeigegangen. Die Orte, ohnehin nur noch zum geringen Teil bewohnt, sind von weiterer Abwanderung in die Täler bedroht, die allein noch den Lebensunterhalt garantieren. Wenn die Alten sterben, wird mit ihnen auch ihr Dorf sterben. Dann wird jenes Zusammenspiel zwischen Kultur und Natur verschwinden, das diese Gegend seit Jahrhunderten geprägt hat. Nicht nur die beschriebenen Wegverbindungen werden verschwinden. Wegfallen wird auch die sinnliche Erfahrung, was es bedeutet hat, am Rande der Zivilisation zu leben, fernab von Lebendigkeit und Wohlstand der Städte, ohne moderne Verkehrsmittel und Gerätschaften.

Der Tourismus könnte deshalb der Rettungsanker sein, um den Menschen vor Ort ein Auskommen zu sichern und sie damit in ihrer angestammten Heimat zu belassen. Voraussetzung dafür aber ist, daß die Einheimischen selbst von den einfließenden Geldern profitieren und nicht ortsfremde Großunternehmer wie Hoteliers und Skiliftbesitzer abkassieren. Dies funktioniert bei dem GTA- Projekt vorwiegend auf dem Nordteil der Route zwischen Domodossola und Susa sowie auf der Westroute des Südteils. Die westlichen Etappen haben deshalb einen gewissen Zulauf, weil sie die alpineren sind. Sie bieten gute Aussichtspunkte, lohnende Gipfel, Gelegenheit für sportlichen Ehrgeiz. Teilweise übernachtet der Wanderer – wie in den Zentralalpen üblich – in Berghütten. Zum Zweck des Tourismus sind sie, wegen der Engsorgungsprobleme öklogisch bedenklich, nachträglich in die Landschaft hineingebaut worden. Auf diesen Streckenabschnitten wandern auch die Italiener, Wochenendausflügler aus Turin und anderswo. Aber nur am Sonntag. Und nur wenn es schön ist.

Die italienischen Wanderer fallen somit für die Ostroute komplett aus. Denn hier gibt es keine alpinistischen Highlights, keine romantischen Höhenübernachtungen, keine Gipfelbücher, keine kulinarisch anspruchsvolle Infrastruktur. Da zudem auch die französischen Interessenten an der Westroute hängenbleiben und der deutschsprachige Tourenführer für den südlichen Teil erst 1989 erschien, als die zunächst engagierten Einheimischen längst resigniert hatten, konnten auch die dem Projekt geneigten Wanderer nichts mehr ändern.

Die Folge: Einige Übernachtungsquartiere auf der Ostroute mußten wieder geschlossen werden. Selbst die Initiatoren des Projekts, die „Associazione GTA“ mit Sitz in Turin, haben die Wartung dieser Route aufgegeben, um alle Gelder auf den touristisch halbwegs angenommenen Westteil zu konzentrieren. Damit verschwinden nicht nur die alten Verbindungswege und mit ihnen die Geschichte dieser Menschen; damit scheitert auch ein Projekt, das den Anspruch hatte, die Belange des Tourismus mit denen des Natur- und Umweltschutzes angemessen zu verbinden. Dieses Scheitern wiegt um so schwerer, weil die Abwanderungsbewegung in vielen Tälern noch immer nicht abgeschlossen ist, wie es die Volkszählung vom Oktober 1991 belegt. Umgehende Maßnahmen sind erforderlich, um den Menschen das Bleiben zu ermöglichen.

Was tun? Einfach hinfahren! Die beschriebenen Wege gehen! Auch wenn sie wegen fehlender oder überwachsener Markierungen mühsam bis abenteuerlich sind; auch wenn man mit geschlossenen Unterkünften rechnen muß. Auch wenn Komfort ein Fremdwort bleibt, die Einheimischen nur italienisch, gelegentlich französisch parlieren und die Karten zuweilen unverläßlich sind. Doch wer bereit ist, solche Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen, kommt in Kontakt mit einer Bergbauernkultur, die sonst in den Alpen schon verschwunden ist. Man erlebt Dörfer und Weiler in ihrem ursprünglichen Zustand, an dem der Zahn der Zeit genagt hat. Darin liegt wohl die einzige Chance, die verunsicherten und enttäuschten Einheimischen doch noch vom sanften Fremdenverkehr zu überzeugen. Dieser will das, was ihnen zeitlebens so sehr am Herzen gelegen hat, nicht einfach abräumen oder musealisieren. Vielmehr sollen sich die Touristen auf Wegen und mit Mitteln nähern, die dort seit Jahrhunderten gültig sind.

Allgemeine Hinweise, auch zur Ostroute, enthält der Wanderführer von Werner Bätzing: „GTA. Teil 2: Der Süden“ (Verlag der Weitwanderer, Oederstr. 23, 2900 Oldenburg). Geführte Wanderungen auf den Ostrouten bietet an: TCEN (Tra Cultura e Natura), c/o F. Wiecha, Henselstr. 6, 6300 Gießen. Die nächsten Wanderungen: 22.–30. Mai, 12.–20. Juni.

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