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Ein unvollkommener Typ

„Free Spirit“ Willie Nelson wird heute sechzig  ■ Von Jörg Freyer

Als seine Plattenfirma eine dieser beliebten Marketing-Umfragen durchführte, bei der die Kundschaft zum Bild eines Künstlers spontan einen Begriff assoziieren soll, fielen den meisten Leuten beim Anblick des bärtigen Mannes mit dem unvermeidlichen Bandana um Hals beziehungsweise Stirn zwei Worte aus dem Mund: „Free Spirit“.

Willie Nelson, der – mitten in der tiefsten Depression – in der provinziellen Enge des texanischen Kaffs Abbott aufwuchs, mußte etliche Stolpersteine aus dem Weg räumen, bevor er der freie Geist werden konnte, der die in der Popmusik so beliebten Kategorien ad absurdum führt. „Ich glaube“, sagte er selbst einmal, „daß sich die Leute mit mir emotional identifizieren, weil ich viele Pleiten erlebt habe und trotzdem immer wieder da war.“ Er, Nelson, sei in diese Welt gesetzt worden, „um zu demonstrieren, wie unvollkommen ein Typ sein kann“.

Die Pleiten? Drei desaströse Ehen, Steuerskandale, der Freitod seines Sohnes Billie, Alkoholprobleme, eine Karriere, die im konservativen Nashville der sechziger Jahre lange so lala verlief. Hits für Patsy Cline („Crazy“), Faron Young („Hello Walls“) und Billy Walker (das meistgecoverte „Funny How Time Slips Away“) sicherten zwar die Miete, doch als Interpret lag Willie auf Eis. Seine Songs, so wurde ihm gelegentlich vorgehalten, hätten „zu viele Akkorde“. Seine schräg-schöne Stimme, die nach Belieben mit Versmaß und Taktvorgabe zu spielen beliebt, erstarb in diktierten 08/15-Arrangements. Sein jazzig irrlichterndes Gitarrenspiel kam im genormten Studiosystem erst gar nicht zum Zuge.

Willie, der damals sogar mit der Country-Institution Grand Ole Opry tingelte, war zu jener Zeit ziemlich weit entfernt davon, ein „Rebell“ zu sein, und machte beklommene Miene zum bösen Spiel. Die Wende zum Freigeist, der sein Leben und seine Musik kontrolliert, kam daheim in Texas. Dort verschaffte er sich zunächst, völlig zurückgezogen, durch das Studium fernöstlicher Philosophien psychische Linderung. Dort spielte er dann auch jene Musik, die genug (auch durchaus gut vermarktbare) „Outlaw“-Attitude besaß, um die College-Hippies anzuturnen, und genug Country-Credibility, um die Rednecks nicht völlig abzuturnen. „Oh Gott“, formulierte der Songschreiber Harlan Howard einmal mit hübscher Ironie nach einem Konzert von Nelson, „es ist, als ob man auf ein Rock-Konzert geht, nur die Songs sind besser, und man kann alle Texte verstehen.“

Als alle Welt erwartete, daß Nelson auf dem lukrativen Outlaw-Trail weiterreiten würde, schockte er die Chefetage seiner Plattenfirma (aber nicht das zahlende Publikum – vor allem – seiner Generation) mit einer Hommage („Stardust“) an die Pop-Schmonzetten seiner Kindheit und Jugend.

Da war's dann auch bis zum Duett mit Julio Iglesias nicht mehr weit. Spätestens in den Achtzigern avancierte Nelson, inzwischen an der Seite von – unter anderen – Robert Redford und Jane Fonda auch als passabler Schauspieler eingeführt – und obendrein in vierter Ehe happy, zum Family Man, der alles machen und dabei davonkommen konnte, weil er einfach immer Willie blieb.

Er sang mit Neil Young und Ray Charles, warf sich als Organisator der „Farm Aid“-Benefizkonzerte für die brachliegende US-Landwirtschaft in die Bresche, tat sich mit Jennings, Johnny Cash und Kris Kristofferson zum Allstar- Vierer The Highwaymen zusammen, schrieb (mit Hilfe des Journalisten Bud Shrake) seine ebenso unterhaltsame wie kuriose und informative Autobiographie „Willie“ (Pocket Books, 1989), der er den bemerkenswerten Satz voranstellte: „I didn't come here, and I ain't leavin'.“

„Zwischendurch“ fertigte er Platte um Platte: Gospel, Weihnachtslieder, Tribute an Lefty Frizell wie Django Reinhardt etc.pp. – immer getreu der alten Maxime seiner ihn fast alleinerziehenden Großmutter, nach der Musik alles sei, „was den Ohren gut tut“, und getreu seiner eigenen Maxime, wonach Country und Blues „dasselbe für mich sind“.

Pünktlich zum Sechzigsten hat sich Nelson jetzt noch einmal zu einem kleinen Meisterwerk aufgerafft. Auf dem Album „Across The Borderline“ beschränkt er sich weitgehend auf seine Rolle als Interpret. Aber was heißt das in seinem Fall schon: Ob die Songs nun von ihm selbst stammen oder – wie hier – von Lyle Lovett, Paul Simon, Bob Dylan und einigen anderen: Nelson hat letztlich noch jeden Song zu seinem eigenen gemacht. So gewinnt selbst ein scheinbar abgedroschenes, eindeutig besetztes Thema wie „Graceland“ neue, schärfere Nuancen.

Seiner stattlichen Duett-Bilanz fügt Nelson mindestens zwei Highlights hinzu: Bob Dylan nöhlt sich mit ihm durch die bittere Anti- Country-Hymne „Heartland“, vielleicht sogar eine bewußte Antwort auf den gleichnamigen Song des texanischen Country-Stars George Strait, der darin noch einmal den Versprechungen des guten, alten, ländlichen Amerika glauben wollte.

Dylan und Nelson hingegen blicken zum Himmel hinauf – und sehen nur ein gigantisches Loch, dort, wo vorher Gott hockte und über seine US-Schäfchen wachte, wo vorher der „amerikanische Traum“ farbenprächtig schillerte, der jetzt nicht nur für viele Farmer unter der Zins-Knute mächtiger Banker begraben liegt.

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