: Kreuzberger Brauchtum
■ 1.-Mai-Nacht in Kreuzberg: Autonome, Besoffene und Polizei bleiben sich treu / Punx mit Rechtsbewußtsein
Berlin. 1. Mai, Kreuzberg, kurz vor 23 Uhr: Fünf Teenies stehen an der Ecke Waldemar-/Adalbertstraße. Einer versucht dilettantisch, das Kopfsteinpflaster aufzureißen. Der Junge – vielleicht 17 Jahre – wird von seinen gleichaltrigen Freunden müde belächelt. Nach wenigen Versuchen gibt der Blonde in Sweat-Shirt, Bluejeans und „Puma“-Turnschuhen auf. Die Clique macht nicht den Eindruck, auf einer der 1.-Mai-Demonstrationen gewesen zu sein – geschweige denn auf irgendwelchen anderen Demos. Doch worum es in der Nacht an diesem Tag geht, wissen sie offenbar: Der „Feind“ kommt mit Blaulicht und trägt Uniform. Heute ist nicht nur alles noch viel aufregender als Silvester, im Gegensatz zu China- Böllern sind Steine kostenlos.
Oranienstraße, 0.12 Uhr: Die Staatsmacht braust mit Wasserwerfer und Räumpanzer die Kreuzberger Kneipenmeile entlang. Unter den Reifen knacken unzählige Scherben, heile Flaschen bersten. Doch die Show hat nur symbolischen Charakter. Die Grüppchen dunkelgekleideter Leute sind allerdings längst in Hinterhöfen, in Kneipen oder Imbißstuben verschwunden.
Kurze Zeit später stürmt ein Trupp einen Kebab-Laden und drängt die etwa 25 Gäste hinaus. Die Türken hinter dem Tresen schauen sich die Aktion an, ohne die Miene zu verziehen, fast gelangweilt. Ein etwa 23jähriger mit Irokesenschnitt, der es offenbar genossen hatte, beim Zugucken „in der ersten Reihe zu sitzen“, regt sich über die Polizeiaktion auf. Es sei sein gutes Recht, im Laden zu bleiben, „auch im rechtlichen Sinne“. Punx als Bürgersöhnchen.
1. Mai – längst ist der „Kampftag der Arbeiterklasse“ in Kreuzberg nur noch ein Stereotyp von Randale mit Volksfestcharakter. Während der Vorbereitungen hinterfragten selbst Autonome den Sinn der 1.-Mai-Aktivitäten.
Wenn die Polizei von einem ruhigeren 1. Mai als in den Jahren zuvor spricht, dann hat es nicht nur mit Statistik über Festgenommene zu tun – dieses Jahr waren es „nur“ 169 Personen, im vergangenen Jahr noch 286. Die Präsenz Schwarzgekleideter verliert sich in „SO 36“ von Jahr zu Jahr mehr zwischen immer jünger werdenden deutschen und türkischen Jugendlichen, die so aussehen, als seien sie gerade auf dem Weg in die Schule, und Besoffenen, die sich mit Bierdosenwürfen auf die Staatsmacht Luft machen. Hätte Eberhard Diepgen, Regierender Bürgermeister, sich an diesem Tag in Kreuzberg unter die Menge gemischt, dann hätte er sicherlich nicht am nächsten Tag von „sattsam bekannten professionellen Randalierern“ gesprochen.
Aber jeder hat sein Ritual, auch die Gegenseite, auch Diepgen, dessen Erklärungen austauschbar sind. Ebenso lobte Polizeichef Hagen Saberschinsky seine Männer: „zurückhaltend“, „schnell“, „konsequent“. Nichts als Floskeln. Zwar war die Polizei tatsächlich zurückhaltend, doch mit Saberschinskys Worten kommentierte bisher jeder Polizeipräsident den Einsatz am 1. Mai – auch wenn sich die Ordnungshüter durch besondere Brutalität ausgezeichnet hatten. Im übrigen braucht der jetzige Polizeipräsident gar nicht so zu tun, als wollten seine Beamten nur gute Arbeit leisten. Auch sie haben ihre Rituale. Manche von ihnen – besonders junge – scheinen sich auf diesen Tag im Jahr zu freuen, an dem sie endlich einmal richtig losschlagen dürfen. Als gegen Mitternacht in der Oranienstraße keine Flaschen mehr flogen und keine Mülleimer mehr ausgekippt wurden, stolperte ein Trupp Bundesgrenzschützer über die Abfälle und sang: „Die Reihen fest geschlossen, die SA marschiert.“ Sofort flogen wieder Steine, endlich gab es für die Staatsmacht wieder was zu jagen.
Leuschnerdamm, 23.15 Uhr: Die Ladung eines Lastwagens brennt, Minuten später der Wagen, die Flammen drohen den Baum über dem Laster in Brand zu setzen. Mehrere Polizei-Wannen rücken an, eine Hundertschaft springt auf die Straße, Schaulustige laufen weg. Ein Beamter schreit ihnen hinterher: „Geht nach Hause.“ Dirk Wildt
Siehe auch Seiten 5 und 21
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