: Der freiwillige Tod von Marc E.
Was hier als „aktive Sterbehilfe“ unter Strafe steht, wird in den Niederlanden unter bestimmten Bedingungen praktiziert ■ Aus Amsterdam Jeanette Goddar
„Die Zeit ist gekommen. Ich hatte ein gutes Leben, aber nun wird es unerträglich. Ich will nicht mehr leben!“ Nach diesen Worten ließ Marc E. (*) seinem Leben im Alter von 33 Jahren auf eigenen Wunsch ein Ende setzen. Der Niederländer hatte Aids im Endstadium, als sein langjähriger Freund, Doktor Arnoud van Grunsven, ihm die tödliche Substanz verabreichte. Zu diesem Zeitpunkt war Marc E. seit Wochen bettlägerig, konnte sich kaum noch bewegen, mußte Tag und Nacht betreut werden. Aussicht auf Besserung bestand keine. Er starb zu einem selbstgewählten Zeitpunkt.
Damit ist Marc E. nur einer von geschätzten 2.300 Menschen, die in den Niederlanden jährlich an einem Euthanatikum sterben. Was in Deutschland „aktive Sterbehilfe“ heißt, strengstens verboten ist und schwer geahndet wird, läuft in den Niederlanden unter „Euthanasie“ – die absichtliche Beendigung eines Lebens durch einen anderen auf eigenen Wunsch.
Im März wurde zu dieser Form von Sterbehilfe vom niederländischen Parlament ein neuer Gesetzentwurf verabschiedet, der bisher einzigartig auf der Welt ist. Solange niederländische Ärzte sich an alle 28 Punkte eines „Bedingungskatalogs“ halten, wird ihnen im Falle einer Euthanasie Freiheit von Strafverfolgung zugesichert. Die wichtigsten der 28 Punkte: Der Patient muß selbst – und mehrfach – um Sterbehilfe gebeten haben, an einer tödlichen Krankheit ohne Aussicht auf Besserung seines Zustandes leiden, über Alternativen wie Schmerztherapie ausführlich informiert und ein Kollege muß herangezogen worden sein. In den meisten Fällen wird diese Form von Lebensbeendigung bei Aids- und Krebspatienten in den letzten Wochen ihres Lebens angewandt.
Euthanasie in den Niederlanden hat eine lange Geschichte und findet breite Unterstützung – laut jüngsten Umfragen bei 80 Prozent der Bevölkerung. Bereits seit den siebziger Jahren wird hier Sterbehilfe (auch offiziell) geleistet und diskutiert. Mit der „Quasi-Legalisierung“ hat das holländische Parlament nach allgemeiner Überzeugung nicht mehr getan, als sich der Praxis der letzten Jahre anzupassen. Das Echo, das diese Entscheidung im Ausland auslöste, ist ÄrztInnen und PolitikerInnen unverständlich. In ihren Augen wird sich durch das Gesetz, das 1994 in Kraft tritt, wenig verändern.
Vor drei Jahren rief die Regierung eine Kommission ins Leben, um sich ein Bild der Praxis von Ärzten zu machen. Die von der Kommission angefertigte Studie über 7.000 Todesfälle und Befragungen von 405 Ärzten förderte erstaunliche Ergebnisse zutage: 9.000 HolländerInnen bitten jährlich um aktive Sterbehilfe, weitere 25.000 lassen sich von ihren Ärzten versichern, ihrem Leben im Falle unerträglicher Schmerzen ein Ende zu setzen. 1,8 Prozent aller Todesfälle gehen nach dieser Studie auf eine tödliche Injektion oder einen Becher mit einer Giftmischung zurück. Der Verlust von Würde, gekoppelt mit unwürdigem Sterben, Schmerzen sowie die Abhängigkeit von anderen sind die Hauptgründe für diese Bitte.
Vorbereitung auf den Tod
Niederländische Ärzte stehen diesem endgültigen Akt offensichtlich nicht weniger aufgeschlossen gegenüber als die PatientInnen: 54 Prozent erklärten, Euthanasie bereits durchgeführt zu haben, davon 24 Prozent innerhalb der letzten zwei Jahre. Weitere 34 Prozent gaben an, in bestimmten Situationen dazu bereit zu sein. Lediglich 12 Prozent lehnten Euthanasie für sich ab. In Amsterdam, der Stadt mit der höchsten Euthanasierate, gingen im vergangenen Jahr 200 von 800 unnatürlichen Todesfällen auf das Konto euthanasiebereiter Ärzte – darunter war jeder zehnte ein Aids-Patient.
Marc E. wußte seit Beginn der achtziger Jahre von seiner HIV-Infektion. Während seiner letzten Jahre pflegte er Aidskranke. Als die Krankheit bei ihm ausbrach, bat er seinen langjährigen Freund, ihm im Falle unerträglichen Leidens sterben zu helfen. „Zwischen unserem ersten Gespräch und dem tatsächlichen Tod vergingen Monate, in denen wir nie darüber sprachen“, erinnert sich van Grunsven. „Dann verfiel er innerhalb weniger Monate körperlich zusehends. Zum Schluß war er Tag und Nacht auf fremde Hilfe angewiesen – beim Essen, Schreiben, Waschen, Pinkeln.“
Marc E. wurde in ein Pflegeheim überwiesen. Als sein Zustand immer desolater wurde und er, geistig noch völlig klar, täglich seinen weiteren Verfall beobachtete, bat er seinen Freund, ihm eine tödliche Dosis einer schnell wirkenden Substanz zu verabreichen. „Er wollte nicht im Pflegeheim sterben. Also holten wir ihn zu mir nach Hause.“ Bis zuletzt, erzählt van Grunsven, habe er nicht geglaubt, daß sein todkranker Freund ihn tatsächlich um diesen letzten Schritt bitten würde. „Ich wußte auch nicht, ob ich es tatsächlich würde tun können.“ In Schichten pflegten zwölf Freunde den Kranken Tag und Nacht.
„Eines Tages war es soweit. Wir vereinbarten einen Zeitpunkt – Mittwoch abend, sieben Uhr. Du kannst nicht einfach sagen, irgendwann diese Woche wird es passieren.“ Für Mittwoch nachmittag lud Marc noch einmal ein, seinen Lebensgefährten und zwei weitere Freunde. Stunden vor dem vereinbarten Zeitpunkt schloß van Grunsven ihn an einen Tropf an – mit Wasser- und Salzlösung. „Ich wollte, daß er bis zur allerletzten Minute sagen kann, ich will nicht.“ Doch Marc wollte. Als der Abend nahte, wechselte er mit jedem seiner Freunde ein Paar Worte, obwohl er schon seit Wochen kaum noch sprechen konnte. „Wir haben uns voneinander verabschiedet“, erzählt van Grunsven. „Dann haben wir ein bißchen zusammen geweint.“ Die letzte halbe Stunde verbrachte Marc mit seinem Lebensgefährten. Mittwoch, kurz vor sieben, rauchte er seine letzte Zigarette. Dann kam Arnoud van Grunsven herein und tauschte die Flaschen aus – Wasser und Salz gegen eine tödliche Mischung. Wenige Minuten später war es vorbei. Marc E. starb friedlich im Kreise seiner besten Freunde. – „Ich war sehr stolz auf ihn, bewunderte seinen Mut“, erzählt van Grunsven. „In den letzten Tagen habe ich gemerkt, wie schwierig diese Entscheidung ist, sein Leben in die Hand zu nehmen und Schluß zu machen.“ Auch wenn Euthanasie faktisch Mord sei, habe sein „Realitätssinn“ ihn dazu bewogen. Und: „Auch wenn ich nicht hoffe, daß es noch einmal passiert – ich würde es wieder tun. Wenn jemand nicht mehr die Energie oder den Glauben hat, können wir ihn nicht zum Leben verurteilen.“
Selbst Geistliche entziehen sich in den Niederlanden nicht der Diskussion um eine vorzeitige Beendigung menschlichen Lebens. „Ich denke, viele haben keine Ahnung, was hier im Krankenhaus eigentlich passiert“, bezieht Pastor van de Lagemaat, Sekretär der Ethikkommission an dem Uniklinikum der Freien Universität in Amsterdam, Stellung zu den Vergleichen des Vatikan der niederländischen Gesetzgebung mit Euthanasie im Dritten Reich. Bei den heutigen technologischen Möglichkeiten künstlicher Lebensverlängerung würde gerade auf Krebsstationen oft ein Punkt erreicht, an dem das Leben nicht mehr als human im Sinne von lebenswürdig bezeichnet werden könne. „Menschen werden zu wandelnden Leichen. Meiner Ansicht nach sind dann die Ärzte zu weit gegangen. Wir reden dann gar nicht mehr über die künstliche Beendigung eines natürlichen Lebens, sondern eines künstlich aufrechterhaltenen. Euthanasie ist ein Weg, Menschen sterben zu helfen.“
Durch die gesetzliche Regelung werde eine breite Diskussion ermöglicht, die soziale Kontrolle mit sich brächte, sagt der Pastor mit Blick auf die Verhältnisse in Deutschland. Außerdem sei die Gesetzgebung kein Freibrief, denn jeder Arzt muß über jeden Fall einen „Euthanasie-Report“ schreiben, und nur in genau bestimmten Einzelfällen bei tödlich erkrankten Menschen unter Einhaltung dezidierter Vorschriften ist die Sterbehilfe überhaupt zulässig.
Die öffentliche Diskussion in den Niederlanden ist jedoch inzwischen längst weiter als die Gesetzeslage. Maßgeblich in Gang gebracht wird sie bereits seit 1976 durch die „Nederlandse Vereniging voor Vrijwillige Euthanasie“ (NVVE), eine Vereinigung mit inzwischen 40.000 zahlenden Mitgliedern. Diese ist mit dem soeben erlassenen Gesetz unzufrieden – nicht nur, weil es Euthanasie theoretisch immer noch als illegal erachtet, sondern auch, weil die Zielgruppe nicht ausreichend sei. In einem jüngst veröffentlichten Papier werden auch Gruppen erwähnt, die bisher ausdrücklich nicht in den euthanasieberechtigten Kreis fallen – leidende Menschen im Altersheim, Koma-Patienten, psychisch oder geistig Kranke, die nicht mehr leben wollen.
„Die Diskussion wird weitergehen“, glaubt auch Ronald Lulf, einer der Ärzte der Amsterdamer Gesundheitsbehörden, die zu jedem „unnatürlichen Todesfall“ gerufen werden und den Justizbehörden einen Bericht vorlegen – also maßgeblich über die Rechtmäßigkeit eines Euthanasiefalles mit entscheiden. Zur Zeit diskutieren bereits die Kinderärzte, bis zu welchem Grad Euthanasie bei Neugeborenen mit schweren Behinderungen zulässig sein sollte. In vier Fällen, erzählt Lulf, sei während der vergangenen sechs Monate in Amsterdam bereits Euthanasie an schwer behinderten Neugeborenen angewandt worden, denen eine pränatale Diagnose eine Lebenserwartung von unter fünf Jahren vorhersagte. Bisher sieht die Gesetzregelung derartige Fälle nicht vor – schon allein, weil eine der Maximen der Regelung besagt, daß der Patient ausdrücklich darum gebeten haben muß. Gerichtlich verfolgt wurde dennoch keiner der zuständigen Ärzte.
„Die kranke Mutter“, Zeichnung von Käthe Kollwitz Foto: Archiv für Kunst und
Geschichte, Berlin
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen