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„Die UdSSR war, ist und wird sein“

Kommunistische und nationalistische Wahlverlierer machen sich in Moskau Luft / Mit Pflastersteinen zur 1.-Mai-Kundgebung / 5.000 Demonstranten, 400 Verletzte  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Zwischen Gagarins Himmelfahrtsstatue und Lenindenkmal blieben den Demonstranten rund vier Kilometer, um sich am Maifeiertag zu Füßen der Sowjetheroen so richtig auszutoben. Eigentlich wollten sich die „Rotbraunen“ – kommunistische und nationalistische Gruppen und Grüppchen – auf dem Roten Platz versammeln. Doch Boris Jelzin hatte sie per Dekret aus dem Zentrum verbannt. So mußten Lkw des Moskauer Autotransportkombinats den Kampfplatz markieren. Hinter ihnen dösten Polizeieinheiten eher gelangweilt denn angespannt in der Maisonne. Überängstliche Sicherheitsvorkehrungen, so schien es zunächst. Noch am Mittag hatten die Demonstranten keine Battaillonsstärke erlangt.

Wo Rotbraune zusammenkommen, herrscht immer aggressive Stimmung. Offene Gewalt hatten sie bisher aber gemieden. Am Sonnabend schienen sie den Konflikt mit der Polizei gesucht und vorbereitet zu haben. Auf Kleintransportern brachten sie ihr Wurfmaterial mit. Pflastersteine und Eisenstücke. Polizei und Sondereinheiten der „Omon“ – Truppen des Innenministeriums – waren nicht ganz im Bilde, als die Demonstranten gewaltsam den Kordon durchbrechen wollten, um Richtung Leninberge zu marschieren. Zurück blieben 400 Verletzte, den offiziellen Angaben zufolge hatten beide Seiten ausgeglichene Verluste. Ein Polizist schwebt zwischen Leben und Tod. Den Verletzungen nach zu urteilen, sind Demonstranten und Polizisten mit äußerster Brutalität aufeinander losgegangen. Noch verbliebenes Volkseigentum ging in Flammen auf und zahlreiche Fensterscheiben klirrten. Die Demonstranten machten sich Luft. Endlich einmal nach so vielen friedlichen – „Frieden der Welt“ – Maifeiern.

Der Einsatzleiter der Omon, Witalij Kejko, warf den Behörden Verrat vor. Sie hätten angeblich den Sicherheitskräften untersagt, sich angemessen zu bewaffnen. Die Polizei war nur mit Schilden, Schlagstöcken und Wasserwerfern bestückt. Inzwischen bildeten sowohl der Oberste Sowjet als auch die Generalstaatsanwaltschaft eine Untersuchungskommission, einige Hundert Menschen demonstrierten am Sonntag vor dem Parlamentsgebäude.

Die Kommunisten sind schlechte Verlierer. Den Wahlausgang vom vorletzten Sonntag wollen sie nicht hinnehmen. Hauptputschist Anatolij Lukjanow, zur Zeit auf freiem Fuß, gab der 5.000köpfigen Menge dafür seine Losung aus: „Für uns ist nichts verloren“. Poet Lukjanow schleudert lieber mit Worten denn mit Steinen. Gefährliches läßt er grundsätzlich von anderen erledigen. Der weinerliche Oberschnüffler, Ex-KGB-Chef Krjutschkow, war ebenfalls mit von der Partie. Er hielt sich im Hintergrund, wie es seinem Berufsbild entspricht. Ex- Vizepräsident Janajew, drei Tage lang alkoholisiertes Staatsoberhaupt, nutzte den Tag, um Autogramme zu verteilen. Für den nächsten Samstag, dem „Tag des Sieges“ im Zweiten Weltkrieg, kündigten die Rotbraunen eine neue Bataille an. Mal sehen, ob sich genügend barrikadenkletternde Rentner finden. Die Rückeroberung der UdSSR beginnt auf der Distanz zwischen Gagarin- und Lenindenkmal. „Die UdSSR war, ist und wird sein!“ – Lukjanow.

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