: Behinderte kämpfen um Gleichstellung
■ Europaweite Protestwoche beginnt / Antidiskriminierungsgesetz gefordert
Berlin (taz) – In 17 europäischen Staaten demonstrieren ab heute Behinderte, um ihre rechtliche Gleichstellung zu fordern. Allein in der Bundesrepublik sind im Rahmen der europaweiten Protest- und Informationswoche vom 3. bis 9. Mai in rund 50 Städten Kundgebungen und Informationsveranstaltungen geplant.
Die Aktionen sollen darauf aufmerksam machen, daß RollstuhlfahrerInnen den öffentlichen Nahverkehr kaum nutzen können und selten eine geeignete Toilette finden. Abhilfe erhoffen sich AktivistInnen von einer Verfassungsergänzung und einem Antidiskriminierungsgesetz, dessen Einhaltung eingeklagt werden kann.
Sämtliche Behindertenorganisationen in der Bundesrepublik setzen sich dafür ein, Behinderte als Gruppe in das Gleichstellungsgebot des Artikels 3 der neuen gesamtdeutschen Verfassung aufzunehmen. Es wird erwartet, daß die gemeinsame Verfassungskommission Ende Mai in dieser Frage entscheidet. „Die Gruppe der Behinderten ist von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes schlicht vergessen worden“, argumentiert der rollstuhlfahrende Richter Andreas Jürgens aus Kassel.
Zum andern fordern die behinderten DemonstrantInnen in der Protestwoche einklagbare Antidiskriminierungsvorschriften, um ihre Menschen- und Bürgerrechte wirkungsvoll zu schützen. Dabei orientiert man sich am Vorbild USA: Dort konnten in den vergangenen 20 Jahren sehr weitreichende Gesetze durchgesetzt werden: Jedes öffentliche und private Gebäude und Verkehrsmittel muß für alle Menschen zugänglich sein; jedes Kind wird in der Schule unterrichtet, in der es am wenigsten ausgesondert wird; Lehrmaterialien müssen auch für hör- und sehbehinderte Kinder und StudentInnen nutzbar gemacht werden. Auch in Australien ist kürzlich ein Antidiskriminierungsgesetz verabschiedet worden, das sich auf bauliche Barrieren, auf den Arbeitsbereich und auf persönliche Ausgrenzungen und Angriffe bezieht. Zumindest letzteres ist auch in Frankreich per Gesetz verboten.
Von solchen Möglichkeiten können Behinderte in der BRD bislang nur träumen. Seit drei Jahren arbeitet man daran, ein Antidiskriminierungsgesetz durchzusetzen. Im Herbst 1991 sprach der verbandsübergreifende „Initiativkreis Gleichstellung Behinderter“ mit dem Düsseldorfer Appell erstmals eine breitere Öffentlichkeit an. Der Appell, der die beiden Forderungen nach einer Grundgesetzergänzung und einem Antidiskriminierungsgesetz konkretisiert, wurde inzwischen von 130 Verbänden und 15.000 Einzelpersonen unterzeichnet und im Januar als Massenpetition der Bundestagsvizepräsidentin Renate Schmidt übergeben.
Während die SPD, die Grünen und die PDS der geforderten Grundgesetzergänzung positiv gegenüberstehen, lehnt die Mehrheit der CDU- und FDP-Abgeordneten eine Erweiterung von Artikel 3 GG ab. Noch weniger Chancen hat ein Antidiskriminierungsgesetz. CDU und FDP lehnen die Forderung ab, auch die SPD-Politiker sind skeptisch. Die Gegner eines Antidiskriminierungsgesetzes argumentieren mit der – verglichen mit den USA – recht weitreichenden deutschen Sozialgesetzgebung. Bei den Betroffenen und ihren Organisationen stoßen solche Argumente auf heftigen Protest: „Alle diese Gesetze orientieren sich an einer männlichen Biographie und kommen hauptsächlich behinderten Männern zugute“, kritisiert Hans-Günter Heiden vom Initiativkreis. „Außerdem konnten die vielgerühmten Sozialgesetze nicht verhindern, daß die Gewalt gegen behinderte Menschen zunimmt. Sie konnten nicht verhindern, daß öffentliche und private ArbeitgeberInnen die gesetzliche Beschäftigungspflicht weniger erfüllen denn je.“ Notwendig sei ein Perspektivenwechsel: Behinderte Menschen wollen nicht mehr als Objekte der Fürsorge, sondern als BürgerInnen mit gleichen Menschen- und Bürgerrechten gesehen werden. Dementsprechend müßten die verschiedenen rechtlichen Bereiche wie Bau- und Strafrecht um antidiskriminierende Vorschriften erweitert werden. Besonders wichtig sei eine Verbandsklagemöglichkeit, um Verstöße zu ahnden.
In der Bundesrepublik geht die Aktionswoche am 8. Mai mit einer zentralen Demonstration und Kundgebung in Kassel zu Ende. Sigrid Arnade
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