■ Die SPD muß sich ganz klar entscheiden, wohin sie will
: Politik statt Depression

Der Kandidat ist abgeschossen, der Vorsitz vakant, vorherrschende Tonlage ist die wechselseitige Schuldzuweisung, und alles zusammengenommen ergibt dann die große Depression. Nachdem Kohls „blühende Landschaften“ immer noch einem Trümmerfeld gleichen, sich die Politikerkaste als solche durch immer neue Skandale und Skandälchen desavouiert hat, befindet sich jetzt also auch noch die größte Oppositionspartei im freien Fall? Bilder, Stimmungslagen, politische Atmosphären entstehen im Wechselspiel von Suggestion und eigenen Ängsten.

Daß in der SPD dieses Gefühl der Krise nun dominiert und in anhaltendes Selbstmitleid umzuschlagen droht, ist ein Ergebnis des Wechselspiels der letzten Monate, spätestens seit die sogenannte Schubladenaffäre publik wurde. Dabei war seit Jansens Offenbarung klar, daß es nicht bei der Beihilfe für Pfeiffer bleiben würde und die eingeschlagene Defensivtaktik fast zwangsläufig da endet, wo Engholm gestern ankam. Gerade noch rechtzeitig, denn für die SPD und die politischen Optionen in der bundesdeutschen Politik ist dieses Ende mit Schrecken dem Schrecken ohne Ende allemal vorzuziehen. Statt gebannt auf die wechselnden Befindlichkeiten ihres Spitzenmannes zu starren, immer das Horrorgemälde vor Augen, Engholm könne der Partei womöglich mitten im Superwahljahr 1994 von der Fahne gehen, kann die geballte Intelligenz der Partei sich vielleicht jetzt wieder den Alternativen einer Regierung Kohl zuwenden und eine Oppositionspolitik machen, die erkennen läßt, was die SPD denn anders machen würde.

Voraussetzung dafür ist, daß die Partei sich nun nicht auf eine monatelange Nachfolgedebatte einläßt. Was jetzt noch Chance ist, könnte zur Krise werden, wenn die Bauchnabelschau weitergeht. Allein die Vorstellung, Johannes Rau würde nun in bekannter Manier versöhnen statt spalten und über Wochen ein Personalkarussell mit ständig wechselnder Besatzung drehen, muß jedem, der endlich etwas anderes als Kohl will, den Magen umdrehen. Wenn nun jeder Unterbezirk die Gelegenheit bekommt, seine/n LieblingskandidatIn auf den Markt zu werfen, bleibt natürlich ein von Konkurrenzkämpfen demolierter Trümmerhaufen zurück. Das Experiment Engholm hat darüber hinaus gezeigt, daß auch Demoskopie alleine keine hinreichende Entscheidungsgrundlage ausmacht. Politikerbeliebtheiten haben ganz kurze Halbwertzeiten.

Die Partei, zumindest die erweiterte Parteiführung und die Bundestagsfraktion, muß sich schon entscheiden, wohin sie inhaltlich will. Sie hat jetzt die Möglichkeit, über die Kandidatenkür noch einmal festzulegen, ob sie im anstehenden Wahlkampf über die Formel „Große Probleme brauchen große Koalitionen“ einen Mann oder eine Frau für die Zusammenarbeit mit der CDU sucht oder eine Figur an der Spitze will, der sie zutraut, eine Ampelkoalition zusammenzubringen und zusammenzuhalten. Es wäre ein Schritt zur Rückgewinnung von Glaubwürdigkeit, erst einmal zuzugeben, daß es mit hoher Wahrscheinlicheit nur diese beiden Möglichkeiten geben wird. Im Sinne der Transparenz und als Weckmittel gegen die vermeintliche Politikverdrossenheit wäre dann eine klare Entscheidung vor Beginn des eigentlichen Wahlkampfs sicher nützlich.

Im Anschluß an die letzten beiden Wahlen nach dem Abgang Helmut Schmidts haben beide Kandidaten nach der Niederlage geklagt, die Partei hätte sie im Stich gelassen. Ein wesentlicher Grund dafür war, daß sowohl Rau als auch Lafontaine mit Parolen antraten, die entweder völlig unglaubwürdig waren oder von der Mehrheit der Partei nicht geteilt wurden. Raus „eigene Mehrheit“ war derart bar jeder Realität, daß selbst Brandt, damals noch Parteichef, im laufenden Wahlkampf mit dem Hinweis, mehr als 40 Prozent wären auch schon ganz nett, korrigierend eingriff. Und Lafontaines Ablehnung einer schnellen Vereinigung war zwar richtig, wurde von der Parteimehrheit aber nicht getragen. Da die Alternative dieses Mal eindeutig ist, gäbe es auch für die Nachfolgefrage eine rationale Entscheidungsgrundlage.

Darüber hinaus kann sich die SPD den Kandidatenverschleiß der letzten Jahre kaum noch länger leisten. Die Entscheidung, die jetzt fällt, muß über einen längeren Zeitraum Bestand haben, oder die Sozialdemokraten verändern sich zu einer Partei US-amerikanischen Zuschnitts, die sich darauf beschränkt, jeweils zwischen den Wahlen einen neuen Kandidaten zu ermitteln.

Um so wichtiger ist es, daß mit der Person auch das Programm erkennbar wird. Egal ob eine Mehrheit in den SPD-Gremien sich nun für Scharping, Schröder oder ganz jemand anderes entscheidet, sie sollte klar sagen, was sie von ihrem zukünftigen Hoffnungsträger erwartet, damit dieser/diese sich klar dazu verhalten kann. Warum sollte schließlich jemand eine Partei wählen, wenn noch nicht einmal deren Mitglieder wirklich wissen, was sie von ihren Spitzenleuten zu erwarten haben? Die Zeiten, in denen der bloße Anschein von Nachdenklichkeit schon für eine neue Politik gehalten wurde, sind jedenfalls vorbei. Jürgen Gottschlich