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Von der Adria nach Sarajevo per „große Lösung“

■ Das Nato-Hauptquartier wollte gestern Berichte, wonach es detaillierte Einsatz- pläne zur Beendigung des Bosnien-Krieges ausgearbeitet hat, nicht kommentieren

„Keine offizielle Stellungnahme“ abgeben wollten Sprecher des Brüsseler Nato-Hauptquartiers gestern zu einem Bericht des ZDF-Magazins „Frontal“ vom Dienstag abend, in dem detaillierte Einsatzoptionen der westlichen Allianz zur Beendigung des Krieges in Bosnien-Herzegowina geschildert wurden.

Die Nato-intern sogenannte „große Lösung“ sieht vor, daß rund 100.000 Soldaten des Bündnisses zwei jeweils 50 Kilometer breite Korridore von der Adria bis nach Sarajevo freikämpfen sowie zwecks Unterbindung von Nachschublinien für die bosnisch-serbischen Truppen die Grenze zwischen Serbien und Bosnien-Herzegowina abriegeln sollen.

Kommando-Unternehmen sollen dann die Insassen der noch existierenden Gefangenenlager befreien. Zumindest erwogen werden auch gezielte Schläge auf Flughäfen und wichtige Nachschubbasen in Serbien. Gäbe es diese Einsatzoptionen nicht, wäre gestern mit Sicherheit ein klares Dementi aus Brüssel erfolgt. Doch das war allein schon wegen der Person des ZDF-Informanten nicht möglich: Generalmajor a. D. Johan Adolf Graf von Kielmannsegg, bis zum 31. März dieses Jahres Stabschef der Heeresgruppe Nord der Nato (NORTHAG) in Mönchengladbach. Hier wurden unter Kielmannseggs Leitung die detaillierten Einsatzpläne ausgearbeitet. Und zwar nicht erst in diesem Frühjahr und von übereifrigen, aus eigenem Antrieb handelnden Militärs, sondern seit Herbst 92 und mit einem klaren Auftrag der politischen Führungsebene des Nordatlantischen Bündnisses.

Im August 92 erteilten die 16 Nato-Botschafter dem Alliierten Kommando Zentraleuropa (AFCENT) der Nato den Auftrag zur Erarbeitung von Einsatzoptionen für vier Szenarien: zur Überwachung des Embargos gegen Restjugoslawien, zur massierten militärischen Begleitung von Hilfskonvois in Bosnien, zur Schaffung von Korridoren sowie zum selektiven Bombardement serbischer bzw. bosnisch-serbischer Ziele. AFCENT gab den Auftrag an das Heereskommando Nord in Mönchengladbach weiter, das den größten Teil der bislang in Bosnien-Herzegowina stationierten UNPROFOR-Soldaten stellt. Entsprechende Arbeitsaufträge gingen auch an die zuständigen Kommandos für die Luftwaffe und die Marine.

Die Einsatzoptionen für die vier Szenarien – darunter die jetzt von Kielsmannsegg öffentlich gemachten – waren bereits im Herbst 1992 fertiggestellt und wurden von den Militärs damals den politischen Auftraggebern vorgelegt. Zusammen mit detaillierten Informationen darüber, wer, wo und wie gegen das Serbien-Embargo verstößt.

Unter anderem wurde Bundesaußenminister Klaus Kinkel seinerzeit detailliert informiert. Doch die politische Ebene wollte sich für keine der Optionen entscheiden und verwies die Vorlagen in die Schublade.

Die Enttäuschung darüber veranlaßte den Generalmajor a. D. jetzt dazu, an die breite Öffentlichkeit zu gehen. Ein Teil der von ihm vor der Fernsehkamera ausgebreiteten Informationen waren bereits in einem Schreiben Kielmannseggs an die Mitglieder des Auswärtigen und des Verteidigungsausschusses im Deutschen Bundestag vom Januar dieses Jahres enthalten. Darin kritisierte der Generalmajor a. D. die „doppelte Moral“ der Politiker, die zwar öffentlich den Tod Tausender in Bosnien beklagten, aber nichts dafür täten, das Morden zu beenden.

Kielmannsegg widerspricht entschieden der Behauptung, es könne für militärische Optionen keine spezifischen politischen Vorgaben geben. Ein Militäreinsatz etwa mit dem öffentlich benannten und damit auch für die Serben erkennbaren Ziel, nur den Krieg gegen muslimische Städte zu beenden und die Versorgung der Bevölkerung zu sichern, nicht aber serbische Truppen von erobertem Territorium zu vertreiben, bedeute ein kalkulierbares, relativ geringes Risiko. Ein Militäreinsatz mit einem derart begrenzten Ziel werde auch nicht zwangsläufig zum von vielen Seiten befürchteten Partisanenkrieg eskalieren. Die Politiker, bemängelt Kielmannsegg, hätten jedoch noch nicht einmal den Mut aufgebracht zur massiven militärischen Begleitung und Durchsetzung der Hilfskonvois, wofür in den Einsatzoptionen die Entsendung von 8.000 bis 10.000 zusätzlichen Soldaten mit schweren Waffen veranschlagt werden. Statt dessen habe sich die politische Ebene lediglich für die „schwachsinnigste“ aller Optionen entschieden: die weitgehend symbolischen Aktionen zur Überwachung des Embargos sowie des bosnischen Luftraums.

Einen Grund für die Zurückhaltung der politischen Ebene sowohl hinsichtlich der Durchsetzung des Embargos gegen Restjugoslawien als auch der Beendigung des Krieges glaubt Kielmannsegg zu kennen. Es gebe eine geheime Absprache zwischen den Regierungen in London und Belgrad. Danach werde Großbritannien sich nicht an Maßnahmen beteiligen, bzw. diese im Nato-Rahmen zulassen, die Serbien ernsthaft schaden könnten.

Der im ZDF-Beitrag vom Dienstag abend verbreitete Eindruck, wonach bei dem von Kielmannsegg beschriebenen Einsatzszenario von 100.000 Nato-Soldaten in Bosnien auch die Beteiligung von Bundeswehrangehörigen vorgesehen sei, ist übrigens falsch. Zwar waren deutsche Militärs an der Ausarbeitung der diversen Optionen beteiligt. Doch als die Regierungen der Nato-Länder die Planungsarbeit der Militärs Ende 92 stoppten, waren noch keine konkreten Operationspläne für bestimmte Truppenkontingente der Nato ausgearbeitet. Daher konnte Verteidigungsminister Rühe gestern auch guten Gewissens dementieren, daß über die bisherige Beteiligung an Awacs-und Hilfsflügen hinaus deutsche Bodentruppen oder Kampfflugzeuge in Bosnien zum Einsatz kommen sollen.

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