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Erschütterndes Risikogeschäft

■ Das „Moskauer Tagebuch“ des Ervin Sinkó: Eine Buchpremiere des Arsenal-Verlags im Haus Ungarn

Ein „Logbuch der gescheiterten Hoffnung einer ganzen europäischen Intellektuellen-Generation“ hat Alfred Kantorowicz das „Moskauer Tagebuch“ des Ervin Sinkó genannt. Noch heute zählt der 1898 in Südungarn geborene und 1967 in Zagreb verstorbene Autor zu den Unbekannten in der großen Reihe ex-kommunistischer Dissidenten. 1962 erschien sein Buch zum ersten Mal in deutsch und wurde kaum wahrgenommen. In den darauffolgenden Jahren stellte Antistalinismus auch nicht gerade eine Empfehlung dar; nun ist das Buch wieder zugänglich, in schöner Ausgabe vom Verlag Das Arsenal herausgebracht. Mittwoch abend stellte der Verleger Peter Moses-Krause das Buch der Öffentlichkeit vor, mit ihm diskutierten der Übersetzer sowie zwei ungarische Literaturwissenschaftler.

Sinkó war an der ungarischen Räterevolution von 1919 beteiligt, emigrierte nach Wien, Bosnien, Zürich, Paris und – auf Anraten Romain Rollands – schließlich nach Moskau. Dort versuchte er vergeblich, seinen Revolutionsroman „Die Optimisten“ zu veröffentlichen: kein einfaches Unterfangen für einen linken ungarischen Intellektuellen, Juden und Kosmopoliten. Das Buch erschien nie, und sein jetzt vorliegendes Tagebuch befaßt sich unter anderem mit der Odyssee dieses Romans. Es schildert Moskau in den Jahren 1934/36 mit dem anfangs naiven Blick eines idealistischen Kommunisten, der immer mehr Einblick in die Verbrechensmechanismen dieser Zeit gewinnt. Isaak Babel, bei dem er zur Untermiete wohnt, wird ihn vor Gericht verleugnen, und von Anna Seghers wird er hören: „Meine Methode: Ich verbiete mir mit Erfolg, darüber nachzudenken.“ Und dieses „darüber“ ist bei Ervin Sinkó konkret: die Schriftstellertreffen voller Affirmation und gegenseitiger Denunziation, die Angst und die Hoffnung. Porträts machen diese Situation lebendig, Sinkó kannte sie alle – André Malraux, André Gide, Béla Kùn, Maxim Gorki.

Gewiß, es gibt viele Bücher zu diesem Thema, doch die Frage nach den Konsequenzen bleibt nach wie vor: Wie geht man mit diesen Erfahrungen um? Sie betrifft auch Sinkó selbst. 1937 geht er nach Paris und schließt sich im Zweiten Weltkrieg Titos Partisanen an, bleibt bis zu seinem Tod in Jugoslawien. In einem Land also, das trotz antistalinistischer Ausrichtung eine Diktatur mit brutalen Unterdrückungsmechanismen war. Ist Sinkó am Ende seines Lebens also doch noch in die Falle des „kleineren Übels“ getappt? Das waren Fragen, die nicht zur Sprache kamen, leider. Auch irritierte die unterschwellig von den Literaturwissenschaftlern vorgetragene These von guten Dissidenten und Renegaten, die ihre Utopien später nur noch unter umgekehrten Vorzeichen propagierten. Hier ist Einspruch geboten: Das Bekenntnis zur westlichen Demokratie und deren Verteidigung impliziert ja keineswegs einen Rückgriff auf Konservatives, sondern auf freiheitliche Tradition, in der alle, Rechte wie Linke, die Spielregeln des Pluralismus beachten müssen; ein demokratischer Sozialist wie Manès Sperber hat das immer wieder herausgestellt. Neben den authentischen Erfahrungen werden also auch in Zukunft die intellektuellen Verarbeitungen stärker gefragt sein. Und ein Anstoß dafür ist Ervin Sinkós „Roman eines Romans – Moskauer Tagebuch“ auf jeden Fall; für den kleinen Berliner Verlag ein Risikogeschäft, für die möglichst zahlreichen Leser eine erschütternde Lektüre. Marko Martin

Ervin Sinkó: „Roman eines Romans — Moskauer Tagebuch“, Arsenal Verlag, 488 S., 48 DM.

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