: Richtige Einschätzung?
■ betr.: "Subkutanes Selbstverständnis" (Die Sensibilisierung für die Politik des Dritten Reiches ist kaum zurückgegangen), taz vom 8.4.93
betr: „Subkutanes Selbstverständnis“ (Die Sensibilisierung für die Politik des Dritten Reiches ist kaum zurückgegangen),
taz vom 8.4.93
Angesichts des Notstandsregimes von Kohl muß man sich allerdings fragen, ob Herrn Mommsens Einschätzung gerechtfertigt ist, wonach die Versuche der Rechten, den Nationalsozialismus zu verdrängen, gescheitert sind. Seine Belege dafür beziehen sich bezeichnenderweise auf charakteristische Vorfälle in der alten Bundesrepublik: den Ausgang der Bundestagswahl von 1987, als deutlich geworden sei, daß die Mobilisierung nationaler Ressentiments sich wahltaktisch für die Union nicht auszahlt, und die Protestwelle nach dem Jenninger-Debakel, die nach meiner Einschätzung aber auch damals schon ihre Wurzeln eher in der internationalen als der nationalen Öffentlichkeit hatte. Insofern könnte die Rückkehr (vor zwei Monaten) zum „Ladenhüter“ der angeblich ungeklärten Reichstagsbrandursache nicht nur Ausdruck einer „gewissen Verkrampfung sein, sondern bezeichnendes Symptom: Die Entscheidung der Bundesregierung, in Schinkels neuer Wache eine „Pieta“ von Käthe Kollwitz auszustellen, ist vielleicht nicht nur die Verlegenheitslösung einer kunstfernen Regierung, sondern symbolisiert (unbewußt?), was uns bald realiter bevorsteht!
Wenn Hans Mommsen die Nebeneinanderreihung von Opfern des Nationalsozialismus und des Stalinismus „strittig“ nennt, muß man jetzt wieder eine Debatte über den Sinn oder Unsinn derartiger Angleichungen befürchten, bei der nichts herauskommen kann – außer daß Unterschiede in den „Vernichtungsmodalitäten“ sich durch Ungleichzeitigkeiten des wirtschaftlichen Entwicklungsgrades gut begründen lassen? Bestehen nicht nach wie vor hinsichtlich der Historisierung von Nationalsozialismus und Stalinismus ernsthafte methodische Probleme? (Die auch von jenen schwammig als „multikausal“ bezeichneten Erklärungsansätzen noch begünstigt werden, in denen das Max Webersche Konzept der charismatischen Herrschaft mitsamt seinen Restbeständen des „Dämonischen“ im Sinne Goethes Anwendung findet?)
Der Rückfall in eine Art calvinistische Schwarz-Weiß-Moral ist mit den moralischen Intuitionen des aufgeklärten Europäers nicht vereinbar und führt daher zum Begriffskonflikt. (Alle „amoralischen“ Eigenschaften, außer den biographischen Restbeständen der Hordenmenschen, sind als solche des Wahnsystems selbst aufzufassen.) Allerdings, für diejenigen, die damals die Opfer waren und ihr Leben lang geblieben sind, konnte nicht zweifelhaft sein, daß sie Rache wollen mußten, weil sie Recht in der Regel nicht bekommen konnten, während Schuldige, Täter und Mitläufer vom Staat ausgehalten wurden, wie der mutmaßliche Thälmann-Mörder im nordrhein-westfälischen Schuldienst oder der ehemalige Waffen-SSler Girgensohn gar in hohen Ämtern der Landesregierung. Mit der Zeit aber schwindet die Betroffenheit und macht den Kopf klarer für einen wirkungsvolleren Kamf gegen alte und neue Nazis.
Bereits zu Beginn des sogenannten „Historikerstreits“ hatte Ernst Nolte ein klärendes Wort gesprochen, als er die nationalsozialistische Vernichtungspolitik klipp und klar „einzigartig“ nannte, gleichzeitig aber auch auf das schwer in Frage zu stellende Axiom hingewiesen hatte, daß keine endliche menschliche Existenz schlechthin vollkommen böse sein kann. Da Kausalgesetze jedoch in der Geschichtswissenschaft nicht anwendbar sind, bringt die Frage nach dem „Vorher“ oder „Nachher“ weniger als die nach dem „Wie“: Sollte man am Ende nicht von einem Regelkreis sich gegenseitig verstärkender politischer Gravitationszentren sprechen, die durch mehr oder weniger komplizierte Interdependenzen aufeinander bezogen waren? Man beachte: Der Negativbezug, die Feindbildfixierung der Nazis auf den Marxismus als größte und wirkungsvollste Emanzipationsideologie in der Literatur des Kampfes um Freiheit und Würde mußte ihre eigene „Wirkungsmacht“ enorm potenzieren. An ihren Gegnern sind sie gewachsen, von ihnen haben sie gelernt. Kennt die Geschichte keine Kausalgesetze, sind auch alle kontrafaktischen Annahmen irrelevant, das historische Ereignis bleibt unumkehrbar.
Im Gegensatz zu dem Begriff einer Handlung oder eines historischen Ereignisses hat der der historischen Option nicht die Spur einer Bedeutung: War der geheime Sinn des Reichstagsbrandprozesses in sozialpsychologischer Perspektive nicht gerade, daß das nationalkonservative Bürgertum in Gestalt von Reichsgerichtspräsident Dr. Bünger mit seinem „Justizirrtum“ einen Rückfall in den archaischen Ritus vollzog, in der Krise einen fast völlig unschuldigen fremden Provo (nämlich Marinus van der Lubbe) zu opfern, daß das Todesurteil, rechtsbeugend, wie es war, das Ende der Rechtsstaatlichkeit in Deutschland besiegelte, die „Resurrektion“ des Hordenführers bedeutete.
Die Erscheinung des Archaischen im europäischen Kulturkreis, wodurch sich der Rückfall in den Faschismus vorbereitet: die Umbildung des Staates in ein Wahnsystem und das Aufkommen extrem aversiver Strategien gegenüber allen Formen von Minderheiten: Diese Rhizome der Schizos stecken nach wie vor tief im Mutterboden. Sorgen wir dafür, daß der Schoß endlich unfruchtbar wird, aus dem das kroch, Dr. Schäuble! Eley Perfido-Albion,
SFB „Landeskunde“ der
Deutschen Akademischen
Austauschgesellschaft
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