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Kotzen oder singen

■ Eine Fleischmann-Retro im Arsenal

Das Zentrum der Dokumentarfilme von Peter Fleischmann liegt an den Rändern der Gesellschaft. Ihre „Helden“ sind Außenseiter, die im Clinch mit etablierten Erstarrungen liegen. Bereits der „Herbst der Gammler“ (1967) erzählt von jugendlichen Aussteigern, für die die Werte der Eltern- Generation keine Gültigkeit mehr haben.

Einen anderen Ausbruchversuch hat Fleischmann in der Langzeitbeobachtung „Al Capone von der Pfalz“ (1970–87) festgehalten. Bernhard Kimmel hat ein kleines Städtchen in der Pfalz förmlich auf den Kopf gestellt. Tagsüber arbeitete er als Weber, nachts raubte er Banken und Fabriken aus. Eine Reaktion auf die Ereignislosigkeit seines Alltags. Bei einem Banküberfall erschießt Kimmel einen Polizisten. Mit der ersten Haftstrafe beginnt seine Karriere in den Vollzugsanstalten. Über die Figur des Bernhard Kimmel nähert sich Fleischmann unterschwelligen Ängsten und Hoffnungen. Die Einwohner des kleinen Ortes sind stolz auf ihren Al Capone. Freimütig bekennen sie, daß sie ihn versteckt hätten, wenn er auf der Flucht Unterschlupf gesucht hätte. Aber die großspurigen Gesten des Outlaw sind im Knast alsbald einem nervösen Zittern gewichen.

In „Deutschland, Deutschland“ (1990/91) beleuchtet Peter Fleischmann die Schattenseiten der Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Die Katerstimmung nach dem Rausch und Taumel der Vereinigung ist sein Kardinalthema. Mit ethnographischem Blick entlarvt er die Gier, die Verzweiflung und den Wahnsinn im wiedervereinigten Deutschland. Da fürchtet sich ein Mann beim Münchener Oktoberfest, daß die Ossis ihm noch die Haare vom Kopf fressen werden; da fährt ein Westberliner mit seinem Benz den Mauerstreifen ab und vermißt bereits jetzt das noch brachliegende Niemandsland, da pflegt ein Leipziger Männerchor deutsches Liedgut: kräftige Stimmen schmettern ihre Weisen in eine Natur, die längst zur Mülldeponie verkommen ist. Doch die Liebhaber der Volks- und Kirchenlieder lassen sich ihre Melodien nicht nehmen.

Peter Fleischmann zeigt vor allem am Schicksal der „kleinen Leute“, wie der Geist des Kapitalismus in die Ruinen des Sozialismus fährt. Denn die mindere Geschichte ist auch für den Dokumentaristen Fleischmann immer lehrreicher als jede andere. In „Deutschland, Deutschland“ verkommt die Geschichte zur Horrorfarce. Helmut Kohl schreitet durch ein Bierzelt, und die Untertanen erheben sich mit glasigem Blick von ihren Krügen. Im Händedruck des Bundeskanzlers ist Festigkeit und Entschlußkraft zu spüren, und durch das Land geht ein Riß. Wo Fleischmann hinkommt, hält das Land ihm Fratzen entgegen, gerät der Alltag zu einem monströsen Einerlei. Die Abwickler reißen ihre Rachen auf und wollen einfach alles verschlingen. Die anderen Nationen, meint ein Bayer im Brustton der Überzeugung, sollen ruhig Angst kriegen – soll man sich etwa der eigenen Stärke schämen? Klaus Dermutz

Spieltermine: Siehe Programmteil

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