Schweiß als nationale Empfindung

■ Der französische Historiker Georges Vigarello, Autor von „Das Saubere und das Schmutzige“ und „Geschichte der Körperpflege“, zu Waschzwängen und Reinigungsbräuchen

taz: Haben verschiedene Gesellschaften unterschiedliche Vorstellungen von Sauberkeit und Hygiene?

Vigarello: Ja, so waren die Engländer anderen westlichen Ländern – insbesondere Frankreich, Italien und auch Deutschland – im 18. Jahrhundert in der Einrichtung ihrer Badezimmer klar voraus. Sie hatten damals schon umfassende technische Erfindungen. So haben die Briten frühzeitig Wasser in die Häuser gelegt, Wasserklosetts und Bidets erfunden, ihre Abfälle mit Wasser weggespült. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben dann vor allem die Amerikaner für ihre begüterten Landsleute etwas Originelles und Wichtiges erfunden: Sie haben das Schlafzimmer direkt mit dem Bad verbunden, während das Badezimmer in anderen Ländern ganz unabhängig davon im Haus eingerichtet war. In anderen – beispielsweise muslimischen – Ländern hatte Hygiene vor allem eine symbolische oder religiöse Bedeutung und hing weniger von der Instrumentalisierung und dem Fortschritt ab. Mit Wasser und Baden verbindet sich dort ein Ritus.

Gibt es heute noch wesentliche Unterschiede in Europa?

Nein, denn die Instrumentalisierung hat überall in Europa gewonnen und gleicht sich überall; sie wurde von den Amerikanern bestimmt. Unterschiede gibt es allerdings noch in der Häufigkeit, mit der sich die Menschen in den einzelnen europäischen Ländern waschen.

Wie verändern sich die Vorstellungen von Schmutz und Sauberkeit?

Es gibt zwei Tendenzen. Die erste hat am Ende des 19. Jahrhunderts – mit der Entdeckung der Mikroben – eingesetzt und besteht darin, all das anzugreifen, was man nicht sieht und nicht riecht, wie leichten Schweiß. Das ist weniger ein sozialer Anspruch – in dem Sinn, daß der andere was merken könnte – als ein intimer, innerer Anspruch, der damit zusammenhängt, wie man sich selbst empfindet. Diese Entwicklung geht mit dem zunehmenden Angebot an Parfums und Deodorants gegen Ausscheidungen einher. Man verjagt also das, was der andere nicht wahrnimmt, aber was man selber spürt, wenn man sich beobachtet. Das zweite ist eine Tendenz zur Psychologisierung: sich waschen, um sich wohl zu fühlen, zu entspannen, sich zu sammeln. Das Badezimmer ist inzwischen zu einem Ort der intimen Wertsteigerung geworden.

Welche Rolle spielt bei dieser Entwicklung die Wirtschaft und die Werbung?

Gewiß, das ist ein Markt. Doch über einen längeren Zeitraum betrachtet, stellt man ganz eindeutig einen zunehmenden Wunsch nach privaten Orten fest, in die kein anderer eindringen kann, und das schon genannte Interesse an der eigenen Haut. Das gab es schon vor der Werbung. Das sind zwei historische Entwicklungen. Natürlich akzentuiert die Werbung heute dieses Phänomen und macht die Hygiene zu einem unendlichen Konsumartikel – dieser Markt ist unerschöpflich und darin mit der Gesundheit vergleichbar: Heute schließt man die Krankheit aus, beugt ihr vor. Man will dabei immer weiter gehen, seinen Zustand ständig verbessern.

Drückt sich in dem Sauberkeitswahn nicht auch der Wunsch aus, immer länger jung und frisch zu bleiben und länger zu leben?

Das ist fundamental und kann von der Werbung wunderbar ausgeschlachtet werden. Wir leben in Gesellschaften, die weniger ideologische, religiöse Bindungen haben als früher, die keine transzendenten Visionen mehr haben. Wir konzentrieren uns mehr auf gegenwärtige Probleme, und die Werbung bestärkt das: Wir müssen hier und jetzt leben und das genießen – dürfen nicht altern, müssen uns gegen die Zeichen der Zeit wehren, das Bild des Jungseins, der Dynamik pflegen, was durch die chirurgischen und chemischen Möglichkeiten noch verstärkt wird.

Wirkt sich vielleicht auch die Aids-Epidemie bewußt oder unbewußt und völlig irrational auf Sauberkeitsvorstellungen aus? Schließlich zögern manche Menschen, einem HIV-Infizierten die Hand zu geben.

Bestimmt, auch wenn solche Epidemien nichts mit Sauberkeit zu tun haben, so spitzen sie doch das imaginäre Mißtrauen zu. Das sind natürlich Wahnideen, doch ist anzunehmen, daß sie Folgen in den Vorstellungen der Menschen haben; das müßte jedoch durch Forschungen bestätigt werden.

Gibt es einen Gegensatz zwischen Stadt und Land? Will sich die Stadt vom Land abgrenzen?

Für die französische Geschichte ist das absolut zutreffend. Es herrschte stets eine große Distanz zwischen Stadt und Land, und die ist gewiß nicht völlig verschwunden. Doch heute leben immer weniger Menschen auf dem Land, und zudem hat insbesondere das Fernsehen zur Vereinheitlichung auch in Sachen Sauberkeit beigetragen.

Interview: Bettina Kaps