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Feldforschung mit Teleobjektiv

■ Pressekonferenz über das Leben der Wagenburgler in der Waldemarstraße endete mit blutiger Fotografennase / Katholische Kirche wollte um Toleranz werben

Kreuzberg. Mit einer blutigen Nase, rotgefärbtem Hemd und Anzeige wegen Körperverletzung endete gestern eine gemeinsame Pressekonferenz der katholischen Kirchengemeinde St. Michel und des Caritasverbands über die Wagenburgler an der Waldemarstraße. Ein Fotograf der Tageszeitung Welt wollte im Anschluß des Gespräches die Bauwagen ablichten, von denen zuvor soviel die Rede war. Die Feldforschung mit Teleobjektiv gefiel aber einem Bewohner nicht. Anstatt den Dialog zu suchen – das Motto der Pressekonferenz hieß immerhin „Mit Außenseitern leben“ – bekam der Fotograf böse eins auf die Nase. Und zwar nicht innerhalb der mit Maschendraht abgesperrten Wagenburg, sondern auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

Böser hätte dieses um Verständnis und Sympathie werbende Pressegespräch über die etwa 40 Bewohner gar nicht ausgehen können. Denn die christlichen Beschützer hatten zuvor viel zu tun, um die skeptischen Journalisten von der Friedfertigkeit ihrer Schäfchen zu überzeugen. Eine „eiskalte Lüge“ sei der Vorwurf, daß zwischen den Mauersiedlern im sogenannten Engelbecken Junkies leben. Das Gegenteil sei richtig, Junkies hätten Platzverbot und bekämen nicht einmal Haschisch. Auch der stapelweise herumliegende Müll sei Fremdverschulden. Die Normal-Nachbarschaft stelle einfach ihre ausgeschlachteten Autos auf dem Mauergelände ab und werfe den Müll über den Zaun. „Das sind nicht alles Chaoten und Verbrecher“, sagte Pastoralreferent Hans-Joachim Ditz von der St.-Michel-Gemeinde, sondern entweder Menschen, die am „Rande der Gesellschaft leben und deshalb entwurzelt sind“, oder bewußt alternative Aussteiger, „die neue Lebensformen suchen“. „Diese Menschen sind wichtig für uns“, sagte Domprobst Otto Riedel, „wir wären traurig, wenn sie weg wären.“ Die – im Unterschied zu den Wagenburglern auf dem Potsdamer Platz oder East-Side Gallery – praktizierte „Abschottungsmentalität“ sei „Notwehr“, meinte auch Pfarrer Schütter. Und Caritasdirektor Axel Bünner hofft, daß es auch in einer olympiageputzten Hauptstadt möglich sein wird, mit Menschen zusammenzuleben, „die aus der Rolle fallen“. Ob zu dieser Toleranz allerdings auch Schläge auf Fotografennasen gehören, konnten sie nicht sagen – sie waren schon wieder weg.

Die blutige Nase besichtigt haben allerdings Bruder Kamillus und Schwester Maria. Eine eindeutige Distanzierung fiel ihnen schwer. Denn sie sind mit Haut und Haaren InsiderInnen der Wagenburg und kennen den politischen Druck, der unweigerlich nach jeder negativen Presseveröffentlichung folgt. Die beiden Mittdreißiger leben, jeder für sich im Zölibat, aber gemeinsam seit anderthalb Jahren auf dem Platz und haben diesen Auftrag, wie Bruder Kamillus sagt, „von Gott erhalten“. Sie begreifen sich nicht als Sozialarbeiter, die ihren Nachbarn protestantisches Arbeitsethos beibringen möchten, sondern als „Arme unter Armen“. Das spartanische Leben mit den Außenseitern sei christliche „Berufung“. Beide tragen Kutten und den Rosenkranz und sind die einzigen Berliner Vertreter der in Frankreich populären ordensähnlichen Gemeinschaft „Emmaos“. Ihren Lebensunterhalt bestreiten sie, wie die Hälfte der Wagenburgler auch, mit Gelegenheitsarbeiten. Bevor sie ihr Paulus-Erlebnis hatten, bewegten sie sich in der Drogenszene und waren selber obdachlos. Jetzt steht auf Bruder Kamillus' Bauwagen ein Zitat des Aussätzigen Lazarus: „Ich war tot und bin lebendig geworden.“ Mit ihrem Plädoyer für Verständnis hoffen sie, daß die Wagenburg nicht, wie dauernd befürchtet, im Herbst geräumt wird. Dann läuft der vor zwei Jahren geschlossene Nutzungsvertrag mit dem Bezirksamt Mitte aus. „Wir können uns unsere Bedingungen nicht aussuchen“, kommentiert Schwester Maria die blutige Nase, „aber was fotografieren die auch in unserem Wohnzimmer.“ Anita Kugler

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