Die Phantome der Ökonomie

Jacques Derrida über die Bedingungen der Möglichkeit von Gabe und Vergeben  ■ Von Reiner Ansén

Welcher Philosoph schreibt heute noch ästhetisch und intellektuell genießbare, ja faszinierende Bücher? Ein gewisser Jacques Derrida tut es, seit über 30 Jahren. Wer ist J.D.? Ein Phantom zweifellos, ein König Midas unter den Philosophen, ein Denker der unmöglichen Möglichkeiten, Genie der Zwischenräume und Meister der Mehrfachgeste. Weder die Scholastik, die ihn definiert, noch die Wut, die ihn denunziert, sind bislang seiner Herr geworden, und die Aussichten stehen bestens, daß wir dieses Phantom nicht mehr loswerden. Wo andere von sicheren Fundamenten unserer Vernunft raunen, die von dieser Vernunft nicht angegriffen werden können; wo andere im Altersstarrsinn immer weiter konstruieren oder sich in abgeklärten Erbaulichkeiten gütlich tun, da verlieren die Texte des jetzt fast 63jährigen Derrida kein bißchen von ihrer Frische, ihrer analytischen Kraft, ihrer Eleganz, ihrer Lust an der Verunsicherung, ihrer völlig kompromißlosen und ganz eigenartigen, luziden Rationalität.

Eines der Phantome unserer Vernunft oder Ökonomie, schon sehr lange in Derridas Werk präsent, aber erst jetzt Gegenstand einer ausführlichen Reflexion geworden, ist die Gabe. Marcel Mauss widmete ihr 1925 eine seiner wenigen längeren Arbeiten, den „Essay sur le don“; Baudelaire veröffentlichte 1869 im „Spleen de Paris“ die kurze Erzählung „La fausse monnaie“; sie gibt Derridas 31. Buch den Titel: „Falschgeld“ ist nur ein weiterer Vertreter all der Phantome unseres Denkens, all der löchrigen Stellen in unseren Kategorien, die Derrida so hartnäckig verfolgt. Denn Falschgeld als Falschgeld gibt es nicht; im selben Moment, in dem es als Falschgeld erkannt wird, hat es schon aufgehört, als Falschgeld zu funktionieren, Falschgeld zu sein. Ein Ding, das nur ist, was es ist, wenn es nicht ist, was es ist – wie die Gabe.

In Frage bei Derridas Lektüre der Texte von Mauss und Baudelaire steht also die Ökonomie, die beschränkte Form der Vernunft und – Derrida ist kein Romantiker der Transgression – die einzig verfügbare. In Frage steht aber – wie mindestens implizit in jeder ernst zu nehmenden Philosophie – noch mehr, nämlich die Möglichkeit und Unmöglichkeit der Ethik. Gemeint ist damit nicht etwa, was im letzten Jahrzehnt den philosophischen Markt überschwemmt hat, keine Fakt/Form- und keine Begründungsdiskussion, sondern eine quasi transzendentale Frage nach Möglichkeit und Unmöglichkeit dessen, was die wesentliche ethische Geste wäre: Geben und Vergeben.

Ob es sie gibt, ist nicht sicher. Mauss selbst bezweifelt, ohne daraus die Konsequenz zu ziehen, ob er den Begriff der Gabe überhaupt zu Recht gebraucht, denn was er beschreibt, sind Systeme des Gabentausches (Potlatsch, Kula), das heißt im Prinzip ökonomische Systeme der Zirkulation und der Äquivalenz. Innerhalb dieses odysseeischen Systems kehrt alles zurück. Sobald aber die Gabe in einem Äquivalent gleich welcher Art – materiell oder symbolisch (als Dank beispielsweise) – zum Geber zurückkehrt, ist sie keine Gabe gewesen, sondern nur ein Gegenstand des Tausches. Immer zahlt sie sich aus. Schon die bloße Anerkennung kann sie annullieren, schon die bloße Absicht zu geben führt das narzistische Gefühl von Güte und Großzügigkeit mit sich. Die Gabe müßte im selben Moment, in dem sie erscheint, verschwunden und vergessen sein, um nicht im realen oder symbolischen Zirkel von Schuld und Ausgleich Teil einer Kalkulation – und damit als Gabe zerstört – zu werden. Sicher, man könnte gegen Derrida auf der Differenz der Äquivalente bestehen. Vielleicht sind ja materielle Äquivalente der Gabe beim direkten Tausch oder beim Kauf und symbolische Äquivalente wie Gefühle gar nicht vergleichbar. Vielleicht sind sie es aber doch, ihre Logik jedenfalls scheint identisch, und auf sie kommt es in einer transzendentalen Analyse, wie Derrida sie hier liefert, an.

In der Konsequenz dieser Logik liegt die Frage: Gibt es ein Jenseits der Ökonomie, also eine Ethik im strengen Sinn? Denn eine Ethik des Kalküls ist im strengen Sinne keine Ethik, sondern eine Ökonomie, ein zwanghafter Zirkel von Schuld und Entschuldung. Und Derrida ist ja bei weitem nicht der erste, der auf die „Weiße Mythologie“, die mythische Struktur unserer Vernunft und unserer Ökonomie aufmerksam macht. Erst jenseits dieses mythisch-ökonomischen Kreislaufs könnten Gabe und Vergeben beginnen. Die Gabe wäre nur ohne Schuld möglich, ohne eine Schuld zu begleichen und ohne eine Schuld zu erzeugen. Sie wäre das „Andere“ der Schuld und das „Andere“ des Mythischen. Deutlicher als in seinen vielen früheren Büchern bekommt man in „Falschgeld“ etwas von der Tiefenstruktur, etwas von der treibenden Kraft von Derridas Denken zu Gesicht: von seiner hartnäckigen Reflexion über Freiheit. Sie war schon für Kant – dem Derrrida auf komplizierte Weise nahesteht – der unverzichtbare Fluchtpunkt des philosophischen Denkens, zugleich bestimmt als etwas „Schreckliches“.

Baudelaires kleine Geschichte nun – im Buch vollständig mit abgedruckt – ist auf den ersten Blick nicht eben spektakulär, wird es aber in Derridas Lektüre sehr schnell: Der Erzähler und sein Freund verlassen ein bureau de tabac, begegnen einem stumm bleibenden Bettler, geben je eine Münze, der Freund eine falsche; was der Erzähler nicht vergeben kann, ist die Dummheit des Kalküls hinter dieser Gabe von Falschgeld, und hier liegt der Punkt, auf den sich diese bloßen Andeutungen beschränken müssen. Denn was im Buch folgte, ist eine Auslegung dieser knapp zwei Seiten, die sich wie eine Summa von Derridas ×uvre lesen ließe, in ihrer talmudistischen Vertracktheit und schwindelerregenden Dialektik, in ihren Exkursen zur Poesie des Tabaks, zu Augen und Armenwesen, zu Baudelaires Antisemitismus, in ihren Reflexionen zu Literatur, Geld, Freundschaft, Zeit, Wahnsinn und Gesetz.

Die Vergebung also? Wenn es keine Gabe gibt, gibt es auch keine Vergebung. Beides muß aber letztlich offenbleiben bei einem Philosophen, der nicht die radikale Alterität, sondern die radikale Alteration denkt. Wenn nicht feststeht, ob irgend etwas gegeben oder vergeben werden kann, so steht doch soviel fest, daß mindestens eines nicht vergeben werden kann, und das ist genau, was der Erzähler bei Baudelaire dem Freund nicht vergibt: faire le mal par bêtise, die Dummheit, wo Einsicht möglich wäre. Diese minimale Ethik hat bei Derrida nichts Erbauliches, sie ist die Voraussetzung seiner radikalen Erweiterung der inneren Grenzen unserer Vernunft. Und faire le mal par bêtise ist das allerletzte, was man Derrida im philosophischen Diskurs vorwerfen könnte. „Ethik“ ist in seinem Werk untrennbar mit radikaler Vernunft verbunden. „Es ist die Geste, die zählt.“ So lauten die letzten Worte des Buches, ein Zitat. Gegenüber den klassischen Gesten der Philosophie, der Konstruktion, dem Sprung und dem Schweigen, besteht Derrida konsequent wie nur ganz wenige auf dem Gestus der zersetzenden, öffnenden Reflexion. All die Phantome unseres Denkens, die so in den Löchern unserer Kategorien erscheinen und Derridas Werk strukturieren, machen dieses Werk selber zu einem Phantom unseres Denkens, vielleicht beinahe zu einer Gabe.

Jacques Derrida: „Falschgeld. Zeit geben I“. Aus dem Französischen von Andreas Knop und Michael Wetzel. Wilhelm Fink Verlag, 200 Seiten, 48 DM