: Im Rausch der Bilder
Dramatische Beziehungen zwischen Menschen und Fischen: „Arizona Dream“ ■ Von Christof Boy
Der letzte Dinosaurier des amerikanischen Traums sieht aus wie eine speckige Version von Jerry Lewis. Und er ist es tatsächlich – als Autoverkäufer Leo, der immer noch daran glaubt, daß man mit dem Duft von Old Spice auf der Wange und frisch gefettetem Haar einen Cadillac verkaufen kann, jene pinkfarbene Inkarnation des american dream. Ausgeträumt. Moderne Autokäufer fragen nach Spritverbrauch und Sicherheit, nicht nach Mythen. Als Leo seinen Neffen Axel (Johnny Depp) im flackernden Licht des Heimkinoprojektors davon überzeugen will, wie wichtig es ist, an den ungebremsten Fortschritt zu glauben, läuft der Film aus der Rolle, und die Leinwand wird weiß. Das Ende einer Geschichte der Fortbewegung. Das Kino war immer eine Projektion dieses Denkens, das sich in der scheinbar grenzenlosen Freiheit der Straße, im Durchmessen großer Entfernungen äußerte. Was macht das Kino jetzt, wo sich der Traum nicht so ohne weiteres fortsetzen läßt?
Emir Kusturica durchmißt mit seinem Film „Arizona Dream“ noch einmal die Dimensionen der amerikanischen Idee vom Erfolg und ihrer Huldigung auf der Leinwand. Er befaßt sich mit den Mythen Amerikas, an denen der serbische Filmemacher wie alle Kinobesucher durch das Hollywoodkino partizipieren konnte, ohne das Land kennen zu müssen. Ein Europäer liefert sich dem amerikanischen Traum aus, indem er sich an den beiden extremsten Ritualen des Bewegungsdrangs versucht: Fahren und Fliegen. Dabei interessiert Kusturica vor allem das Mißlingen jenes uralten Menschheitstraums: der Kampf mit der Technik, die widerspenstige Maschine und der Absturz der Ikarusse, die es noch nicht einmal schaffen, so nahe an die Sonne zu gelangen, daß sie sich ihre Flügel versengen könnten.
Und dann gibt es noch jene, die den Fliegenden mit ihrem Drang nach Allmacht ausgeliefert sind, die sich niemals trauen würden, an ihrer Situation etwas zu ändern. Sie sind die eigentlichen Opfer des amerikanischen Traums. Das Bodenpersonal. Noch ein Traum, aber einer mit Alpdrücken.
Paul Leger (Vincent Gallo) ist ein solcher Mensch. Er lebt mit Onkel Leo in Arizona, verkauft Autos und hält sich für ein Schauspielgenie. Paul kann jede Rolle in „Der Pate“ und „Wie ein wilder Stier“ mitsprechen. Seine Glanznummer aber ist die Flugzeugszene aus „North by Northwest“ von Alfred Hitchcock. Bei einem Vorsprechen im örtlichen Talentschuppen stellt Paul ein paar Maiskolben auf die Bühne. Dann setzt er die unbeteiligte Miene von Cary Grant auf, wie er am Rande des Maisfeldes auf eine geheimnisvolle Verabredung wartet und zusieht, wie ein Düngemittelflugzeug seine Kreise zieht. Im nächsten Moment muß Cary Grant Deckung suchen zwischen den Halmen, denn das Flugzeug attackiert ihn – erst mit den Chemikalien, dann mit der Bordkanone. Leger spielt all das nach: das Motorengeräusch, das Sprühen der Düse, die beherzten Sprünge des Schauspielers. Eine Klassikerszene als Slapstick, doch dabei läßt es Kusturica nicht bewenden.
Noch mehrmals muß sich der Filmnachspieler ducken, verstecken, in den Staub werfen. Erst auf der Bühne, später dann in freier Natur nach einer echten Attacke mit einem Ultra-Light-Flieger. Leger ist eingesperrt in seinen Traum, Filmschauspieler zu sein. Eigentlich existiert er nur durch diese Filme – verdammt, immer und immer wieder dieselbe Szene spielen zu müssen. „Ich hasse diesen Film“, brüllt Paul gen Himmel. Aber niemand hört ihn.
Axel kommt aus New York, wo er sein Leben damit zugebracht hat, Fische aus der sauerstoffarmen Hudson Bay zu angeln, zu markieren und in die rettende offene See zu entlassen. Etwas unfreiwillig verschlägt es ihn zu Onkel Leo und damit in eine Welt des Stillstandes. Erwachsen soll er werden und einen richtigen Beruf erlernen: Autoverkäufer natürlich. Doch Axel verliebt sich schon beim ersten Kundengespräch in die vierzigjährige Elaine. Unter den eifersüchtigen Augen von Elaines Stieftocher Grace baut er ein Flugzeug für Elaine. Plötzlich entpuppt sich das Leben in der Provinz als aufregend – vergessene Erfahrungen mit Liebe, Tod und den überraschenden Fähigkeiten von Menschen, die man in- und auswendig zu kennen glaubte.
Träume können ausufern. Träumende Regisseure vergessen manchmal ihr Publikum. Dann geraten die Szenen unendlich elegisch – mit Feuerfanalen und kitschigen Chören. In solchen Momenten hat „Arizona Dream“ Längen, die aber nicht zu stark ins Gewicht fallen, weil der Zuschauer sie als willkommene Verschnaufpause im Rausch der Bilder wahrnimmt. Immer wieder entdeckt Kusturica – darin seinem letzten Film „Time of the Gypsies“ treu – eine Geschichte unter der Geschichte; wie die Schalen einer Zwiebel sind Reales und Irreales, Alltägliches und Unmögliches ineinander verwoben zu einer prallen Vision von Kino: ein Mann zwischen Mutter und Tochter, eine Reminiszenz an Hollywood mit Filmzitaten großer Vorbilder, eine augenzwinkernde Abrechnung mit dem amerikanischen Traum und eine überbordende Liebe zu merkwürdigen Symbolen und Andeutungen. In dieser Verknüpfung von befremdlichen Traumsequenzen mit nicht weniger befremdlichen Szenen aus dem Alltag der Provinz gewinnt Kusturicas Film den Glanz zurück, den viele Filme aus Hollywood längst verloren haben. Da hebt der Krankenwagen, der den sterbenden Cadillac-Verkäufer transportiert, plötzlich von der Straße ab und fliegt direkt in den Mond. Im Tod hat es Leo doch noch geschafft – Mann im Mond mit einem Auto. Eine verrückte Idee von Freiheit, die Kusturica visuell durch eine Fabel verstärkt: des Nachts ist manchmal ein platter Fisch zu sehen, der seine beiden Augen auf einer Seite hat und plötzlich durch die Dunkelheit schwebt.
Mit „Arizona Dream“ gibt uns Kusturica die Bilder zurück, an denen wir uns vermeintlich satt gesehen haben. Die Erklärung überläßt er Iggy Pop, der am Schluß singt: „This is a film about a dramatic relationship between man and fish.“
Emir Kusturica: „Arizona Dream“, USA 1992. Kamera: Vilko Filac. Mit Faye Dunaway, Johnny Depp, Jerry Lewis, Lili Taylor u.a. 140 Min.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen