piwik no script img

„Höchstens eine halbe Heimat“

Türkische Senioren in Berlin: Krankheit, Isolation und finanzielle Sorgen bestimmen ihren Alltag / Soziale Anlaufstellen gibt es für sie kaum / Kinder und Enkel sind oft der einzige Lichtblick  ■ Von Tanja Stidinger

Berlin. Wenn Zekeriya Eldemgil lacht, blitzt eine Reihe Goldzähne auf. Zumindest an diesem Nachmittag amüsiert er sich prächtig. Jeden Mittwoch verbringt der 58jährige Rentner Stunden im Haus der Begegnung der Arbeiterwohlfahrt. Hier, mitten in Kreuzberg, trifft er Altersgenossen, trinkt Tee, spielt Tavla, tratscht und diskutiert. „Für mich ist das hier Abwechslung, sonst gibt es für mich doch nichts mehr zu tun. Wohin soll ich denn mit mir“, erklärt er zögerlich. Zekeriya Eldemgil kam vor 28 Jahren aus Istanbul nach Deutschland und bezahlte, wie so viele andere Türken seiner Generation, den Aufbau und Erhalt des Wirtschaftswunderlandes mit seiner Gesundheit.

Jahrelang arbeitete er Akkord, und „keinen Tag habe ich gefehlt“. Jetzt hat er von der Arbeit in der Fabrik eine schwere Metallallergie. Vor drei Jahren ging er in Frührente. Seither leben er, seine Frau und ihr fast erwachsener Sohn von 724 Mark Rente und 500 Mark Sozialhilfe monatlich. „Wie soll das gehen, und die Miete muß doch bezahlt werden.“ Nein, schüttelt er langsam den Kopf, so hat er sich sein Alter nicht vorgestellt.

Über 10.000 türkische Senioren und Rentner verbringen ihren Lebensabend in Berlin. Krankheit, Isolation, finanzielle Sorgen und familiäre Konflikte bestimmen größtenteils ihren Alltag. Auch wenn es alten Deutschen ähnlich ergeht, kommt bei den Immigranten der ersten Generation eine entscheidende Komponente hinzu. „Die deutsche Gesellschaft hat sie jahrzehntelang abgelehnt. Sie betrachten sich selbst als ungeliebte Person. Immer haben sie sich auf die Arbeit konzentriert, oft über ihre Kraft hinaus. Deswegen sind so viele psychisch und physisch krank“, sagt Mustafa Cakmakoglu nachdenklich. In den Sprechstunden des Vorsitzenden der Türkischen Gemeinde geben sich die Senioren die Klinke in die Hand.

Fast immer, so Cakmakoglu, haben sie Sprachschwierigkeiten. Aufgrund der lange aufrechterhaltenen Rückkehrillusion hielten es nur wenige für nötig, die deutsche Sprache zu lernen. „Außerdem war doch eh keine Zeit dafür, bei der Schufterei“, sagt er knapp. Auf Ämtern und bei der für Renten zuständigen Landesversicherungsanstalt sind sie ohne Dolmetscher hilflos und unsicher. Probleme, die auch Erdogan Özdincer kennt. Der 57jährige ist Mitarbeiter in der Ausländerberatungsstelle des DGB. „Viele Alte kommen mit Sorgen und Fragen, fühlen sich nutzlos. Und da dachten wir, gut, machen wir eben einen Verein auf, um ihre Altersprobleme zu lösen.“

Über 100 Mitglieder stark ist inzwischen der „Verein türkischer Rentner“. Neben Gymnastik, Ausflügen und Treffen stehen auch Hilfe im Krankheitsfall und soziale Beratung auf dem Programm. „Auch Senioren brauchen Kontakte. Sie haben das Gefühl, daß sie hier viel geackert haben, und plötzlich werden sie in die Ecke geschoben und allein gelassen“, so Özdincer.

Längst überfällig scheint diese Eigeninitiative zu sein. Für die hilfesuchenden Menschen gibt es zuwenig Anlaufstellen. Initiativen und Verbände, die sich wie die Arbeiterwohlfahrt auch auf Senioren spezialisiert haben, sind überlaufen. Die Fragen nach der Versorgung, Pflege und Unterbringung alter ausländischer Arbeitnehmerinnen werden dringlicher. Immer mehr kehren nicht, wie einst vom deutschen Staat geplant, im Alter in die Heimat zurück. Die meisten verbringen ihren Lebensabend in einem Land, das für sie stets Fremde blieb.

„Heimat“, übersetzt der Dolmetscher der türkischen Gemeinde für Ali Ergin, „ist das hier nicht. Höchstens eine halbe.“ Ali Ergin, der 68jährige aus Ankara, kam 1964 nach Berlin und arbeitete auf dem Bau. Er hat sich ein bescheidenes Vermögen erwirtschaftet und verbringt die Hälfte des Jahres in der Türkei.

Pendeln zwischen hier und dort ist für die meisten alten Türken die einzige Möglichkeit, in ihrer Heimat zu leben, ohne ihren Aufenthaltsstatus in Deutschland zu verlieren. Dessen Verlust droht, verläßt man länger als sechs Monate das Land. Gerade Kranke bleiben wegen der besseren ärztlichen Versorgung lieber ganz in der Bundesrepublik. Andere kehren verstört nach Berlin zurück, um festzustellen, daß sie sich weder in dem einen noch in dem anderen Land zurechtfinden.

Einziger Lichtblick für Ergin waren seine Kinder und Enkel, „aber ich verliere sie. Sie haben keinen Respekt vor mir und leben ein anderes Leben als ich.“ Den Generationenkonflikt verkraftet gerade diese Altersgruppe schwer. „Sie schwanken zwischen Stolz auf ihre Kinder und Unverständnis für deren Lebensweise. Dabei haben sie doch nur für sie gearbeitet“, faßt Erdogan Özdincer zusammen.

Auch für die 42jährige Ayshe, die über 20 Jahre Akkord in der Schneiderei arbeitete und die jetzt Frührentnerin ist, sind die Kinder die Zukunft. „Ich lebe nur für sie“. Sie sind es auch, die sie und ihren Mann im Alter versorgen werden, davon ist sie überzeugt.

Vorsorge, wenn auch zaghaft, trifft die Ausländerbeauftragte des Senats. Barbara John (CDU) rechnet damit, daß in Zukunft immer mehr türkische Senioren in Altersheimen und auf Pflegestationen untergebracht werden müssen. In einem Modellprojekt bietet sie türkischen Frauen nun die Möglichkeit, sich im Altenpflegebereich fortbilden zu lassen. „Es ist notwendig, pflegebedürftigen Menschen ein Pflegepersonal zur Seite zu stellen, das ihre Sprache und Kultur kennt, um sie nicht noch mehr in die Isolation zu treiben.“

Die ist bei türkischen Rentnerinnen meist noch intensiver als bei Männern. Den Treff- und Informationsort für türkische Frauen (TIO) in Kreuzberg besuchen immer mehr Seniorinnen. „Während die Männer ins Café gehen und dort Leute treffen, bleiben die Frauen zu Hause und sind weiterhin verantwortlich für Familie und Haushalt“, berichtet die Mitarbeiterin Helga Göbel.

In der Türkei, erzählt Mustafa Cakmakoglu, gibt es ein Sprichwort, das auf die Situation der Alten paßt. „Man spricht vom ,Leben zwischen zwei Moscheen‘. Weder zu der einen noch zu der anderen gehören unsere Senioren ganz. Sie haben für beide Länder, die Türkei und Deutschland, gearbeitet, sich ganz gegeben. Und jetzt weiß keiner, wohin mit ihnen.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen