: Die Krise ist die große Chance für rot-grün
■ Jetzt fallen die Entscheidungen für die Bundestagswahl Ende 1994
Rot-grün. Nach jahrelanger Pause ist das Projekt wieder in der Diskussion; noch nicht als konkretes Projekt, nicht als inhaltlich gefülltes Reformprogramm, aber als politische Strategie: Als „Ablösungsstrategie“, wie Gerhard Schröder nicht müde wird zu betonen. Das zu guter Letzt zu einer Ablösungsmehrheit wohl die FDP noch gebraucht wird, ist ein realistischer Einwand, kann zum jetzigen Zeitpunkt aber vernachlässigt werden. Für die Formulierung eines Reformprojekts alternativ zur herrschenden Misere wird die FDP nicht gebraucht. Sie wird, wenn es so weit ist, entscheiden müssen, ob sie sich auf die reformwillige Seite der Gesellschaft stellt. Der Machtinstinkt der Gelben ist bei dieser Entscheidung ein ziemlich verläßlicher Bündnispartner.
Die erste für 1994 relevante Entscheidung fällt jetzt in der SPD. Entspricht eine Ablösungsstrategie überhaupt der Stimmungslage der SPD? Was immer man Schröder vorhalten mag, ihm kommt das Verdienst zu, daß er die Partei zu einer Entscheidung zwingt. Dabei ist sein Vorschlag „rot-grün“ der erhebliche riskantere, aber auch der kreative und im eigentlichen Sinne politische. Schröder will von seiner Partei etwas: Sie soll sich bewegen, politischen Willen formulieren und ihn auch durchsetzen wollen. Dazu mit einem Kanzlerkandidaten, der im kommenden Frühjahr erst einmal eine Landtagswahl gewinnen will und der Partei damit noch das Risiko aufbürdet, daß sie im Falle einer Niederlage Schröders in Niedersachsen schon wieder ohne Kanzlerkandidat dasteht. Die Vorteile der Situation liegen allerdings auf der Hand: Eine Entscheidung für rot- grün geht nur mit einer SPD, die aufwacht, die sich einen Ruck gibt, die bereit ist, in einer echten gesellschaftlichen Auseinandersetzung auch zu kämpfen. Eine solche Koalition (auch unter Einschluß der FDP) macht man nicht so nebenbei am Wahlabend. Da muß bereits lange vorher klar sein, welches die entscheidenden Punkte für die kommenden vier Jahre wären, welchen Projekten eine solche Koalition verpflichtet wäre und woran sie sich messen lassen will.
Mit einer inhaltlichen Debatte müßte der Wahlkampf bestritten werden, es gälte, Leute zu motivieren, auch über das Kreuzchenmalen hinaus. Die Ablehnung, die Schröder jetzt innerhalb seiner Partei erfährt, würde im Wahlkampf potenziert. Schröder ist in der SPD kein Konsenskandidat, und rot-grün wäre kein gesellschaftliches Konsensprogramm. Ein großer Teil der SPD hat Angst vor den zu erwartenden Konflikten.
Dies trifft auch auf die Grünen zu. Die Zeiten, so wird eingewandt, sind nicht reformfreundlich, die gesellschaftlichen – konkreter: die ökonomischen – Rahmenbedingungen sprechen gegen ein Projekt „rot-grün“. Warum sollte sich ausgerechnet eine linksliberale ökologisch orientierte Regierung an einem drastischen Sparprogramm die Hände schmutzig machen, immer mehr Arbeitslosen sagen müssen, daß die Zeit von Vollbeschäftigungen unwiederbringlich vorbei ist und der Wohlstandszuwachs der letzten 25 Jahre nicht mehr zu haben ist? Jahrelang haben Ökologen über Null- Wachstum als entscheidende Voraussetzung für einen gesellschaftlichen Umbau diskutiert ohne das jemand daraus Konsequenzen ziehen wollte.
Jetzt werden die lahmende Weltkonjunktur und die notwendigen Mittel für den „Aufschwung- Ost“ genau dafür sorgen. Blühende Landschaften im Osten und eine boomende Wirtschaft wird keine Partei im Wahlkampf 94 versprechen können. Statt dessen ist Sparen angesagt. Entschieden werden muß, unter welchen Vorzeichen und mit welchem Ziel. Jeder weiß, daß der Wachstumszwang der Industrienationen bei Strafe des ökologischen Untergangs global nicht verantwortbar ist und auch die bundesdeutsche Ost- West-Auseinandersetzung sich nicht so schnell im gemeinsamen Wohlstand für alle auflösen wird. Die reichen Industriegesellschaften des Nordens müssen materiellen Verzicht üben, und die bundesdeutsche Wohlstandsgesellschaft, durch die Vereinigung zusätzlich stärker als alle anderen westeuropäischen EG-Länder unter Druck gesetzt, hat jetzt die Chance, damit anzufangen. Genauer gesagt, eine rot-grüne Regierung hätte die Möglichkeit, die Chance, die in der Krise liegt, auch zu ergreifen.
Es käme darauf an, Verzicht positiv zu besetzen. Positiv zu besetzen für alle diejenigen, die nicht am Rande des Existenzminimums leben – und das ist ja immer noch die ganz überwiegende Mehrheit der deutschen Gesellschaft. Eine rot- grüne Koalition müßte klarmachen, daß materielle Einbußen auch zu einem mehr an Lebensqualität führen können. Angefangen vom Rückgewinn der Zeit bis zu der Möglichkeit, tatsächlich mit einem ökologischen Umbau zu beginnen, statt weiter nur kosmetische Korrekturen vorzunehmen. Die Verantwortung einer solchen Koalition wäre es zum Beispiel, dafür zu sorgen, daß ein Aufbau im Osten unter zukunftsweisenden ökologischen Prämissen erfolgt und nicht der kurzfristigen Profitmaximierung plus Erhalt einiger Arbeitsplätze dient, die letztlich nur auf Kosten der Umwelt gehen.
Kann die SPD das, können die Grünen das und wollen beide diese Herausforderung annehmen? In jedem Fall könnten es sich beide Parteien auch bequemer machen. Die SPD könnte mit Scharping in einer großen Koalition den Mangel verwalten, und die Grünen könnten mit kosten- und folgelosen Vorschlägen aus der Opposition darauf warten, daß sich die Rahmenbedingungen zu ihren Gunsten verändern. Diese Variante ist leider die wahrscheinliche. Sinn macht sie nicht. Die Grünen, die jetzt wieder im Aufschwung sind, müssen fürchten, an ihren eigenen Aussagen gemessen zu werden. Eine Partei, die damit großgeworden ist, auf die drohende Katastrophe aufmerksam zu machen, wird überflüssig, wenn sie sich weigert, eine Chance gegen diese Katastrophe anzugehen, wahrzunehmen. Eine SPD, die seit 1989 auf Anpassungskurs fährt, wird in einer großen Koalition ihren letzten Rest an Profil einebnen. Das Ergebnis wäre eine weitgehende gesellschaftliche Lähmung und die drohende Gefahr, daß gesellschaftliche Utopien von rechts gefüllt werden. Die auf den ersten Blick risikolose Lösung könnte katastrophale Folgen haben. Jürgen Gottschlich
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